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Öffentlicher Verkehr national und international => Verkehrspolitik => Thema gestartet von: tramway.at am 09. Juni 2017, 08:14:07

Titel: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: tramway.at am 09. Juni 2017, 08:14:07
http://www.agfk-bayern.de/download/oeffentlicher_bereich/agfk_bayern_ver%C3%B6ffentlichungen/wirtschaftsrad/AGFK-WirtschaftsRad-Broschu%CC%88re-2-Web(2).pdf

Es handelt sich um eine Studie, die in Bayern von der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Kommunen heraus gegeben wurde.

Bemerkenswert: die Fehleinschätzung der Kaufleute über den Anteil des Verkehrsmittels der Kunden:
Anteil Verkehrsmittel in Prozent (in Klammer Einschätzung von Kaufleuten):
Fußgänger 44 (25)
KFZ: 32 (58)
Öffenliche Verkehrsmittel 16 (12)
Fahrrad 8 (5)

und auf Seite 5 aufgeteilt auf die 4 Verkehrsmittelgruppen die Anzahl der Einkäufe pro Woche, die Ausgaben pro Einkauf und die Ausgaben pro Woche aus einer Kundenumfrage in 6 französischen  Agglomerationen: Die Autofahrer geben pro Besuch am meisten aus, machen aber die wenigsten Einkäufe und fallen daher im Wochenschnitt auf den letzten Platz, während Fußgänger im Wochenschnitt auf dem ersten Platz liegen. (In der SCS wird das sicher anders aussehen)
Titel: Re: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: tramway.at am 09. Juni 2017, 08:16:56
Das habe ich einem Freund weitergegeben (eingefleischter Autofahrer), der fürs Weihnachtsgeschäft einen Pop-up-store kurzfristig gemietet hat (er verkauft Dekorationsgegenstände). Er war sehr verblüfft; seine Antwort:

Also der Standort war aus meiner Einschätzung sehr gut. Etwas Besseres als eine Haltestelle vor der Türe kann man sich nicht wünschen. Jeder der dort wohnt und damit irgendwann mal ein oder aussteigt kommt ins Geschäft. Eine Chance etwas zu verkaufen und den Kunden zu binden. Der D-Wagen hat uns schubweise die Kundinnen und Kunden ins Geschäft gebracht bzw auch die auf die Bim Wartenden.

Klientel war 1a.  Ärzte, Architekten, kein Gsindel, keine Schnorrer und viele Studentinnen und Studenten von der Uni ums Eck aber auch vom Lyseeum. Die beiden letztgenannten kamen nur um Walker Salt´Vinegar chips und Cadbury Schokolade zu kaufen. Davon kann man nicht leben, wenn man für 7 Wochen 4.500,- Euro Miete(warm) zahlt. Vielleicht mein Fehler, dass ich zu wenig sehr hochpreisige Produkte habe. Aber auch wenn jemand eine Barbour Reisetasche um 500,- Euro bei mir kauft, dann braucht der wahrscheinlich die nächsten 20 Jahre keine mehr und das Klientel, das 500 Euros für eine Tasche ausgibt ist auch im Serviettenviertel rar.

Witzige Erfahrung in dieser Gegend. KEINE Kundinnen und Kunden vor 10:00 Uhr (schlafen da die Bobos noch?). Ich habe deshalb die Öffnungszeiten von 9-18 auf 10-19 Uhr geändert und bin gut damit gefahren.

Meine Einschätzung an diesem Standort [Serviettenviertel] (rot)

Anteil Verkehrsmittel in Prozent (in Klammer Einschätzung von Kaufleuten):
Fußgänger 44 (25) (40)
KFZ: 32 (58) (5)
Öffenliche Verkehrsmittel 16 (12) (50)
Fahrrad 8 (5)(5)

Ich habe mit meinen Geschäften an verschieden Standorten schon sehr interessante Erfahrungen gemacht. Würde ich gerne mit Dir besprechen, wenn es Dich interessiert. Bei diesen Erfahrungen fehlt mir noch Währingerstrasse / Kutschkermarkt. Das wäre mein Wunsch ans Christkind für 2017.


 
Titel: Re: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: coolharry am 09. Juni 2017, 08:30:18
Die Wahl der Verkehrsmittel ist ja wohl extrem stark vom Standort abhängig. Es ist aber in einer Stadt sehr wahrscheilich, dass die meisten Kunden aus der Umgebung kommen und somit mit zu Fuß, mit dem Rad (abhängig von Radinfrastruktur) oder mit den Öffis kommen. In der Stadt fahren heute nur mehr sehr wenige, wenige hundert Meter mit dem Auto und das meist auch nur für den Wochenendeinkauf aber nicht für Kleinigkeiten.
Titel: Re: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: haidi am 09. Juni 2017, 09:43:30
Wäre die Studie nur für z.B. München gemacht worden, schaute sie in Bezug auf Verkehrsmittelwahl sicher anders aus.

Was mich überrascht hat ist, dass die Autofahrer im urbanen Bereich in Summe offensichtlich am wenigsten Geld liegen lassen, deren Aussperrung überhaupt kein Problem sein dürfte.
Titel: Re: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: Linie 41 am 09. Juni 2017, 11:42:23
Kaufleute haben aber sowieso oft eine etwas seltsame Sicht der Dinge. Viele denken halt extrem konservativ und an der Lebensrealität der Menschen vorbei, meiner Meinung nach auch der Grund dafür, warum sie vom Online-Handel oft gnadenlos in den Boden gestampft werden.
Titel: Re: Verkehrsmittelwahl: Realität vs. Erwartungen
Beitrag von: moszkva tér am 09. Juni 2017, 13:19:49
Die Autofahrer geben pro Besuch am meisten aus, machen aber die wenigsten Einkäufe und fallen daher im Wochenschnitt auf den letzten Platz, während Fußgänger im Wochenschnitt auf dem ersten Platz liegen.
Erscheint irgendwie logisch: Fahre ich mit dem Auto zum Einkaufen, mache ich gleich einen Großeinkauf, und brauche dann eine lange Zeit nichts mehr. Gehe ich zu Fuß einkaufen, kaufe ich Kleinigkeiten für den Tagesbedarf.
Es gibt natürlich solche und solche Geschäfte. Ein Geschäft, das sich auf Autofahrer spezialisiert (Großer Parkplatz in der Suburbia) nimmt den kleinen Geschäften in der Stadt die Kunden weg, weil diese stattdessen mit dem Auto fahren. Dadurch müssen die kleinen Geschäfte zusperren und die Fußgängerkunden werden auch aufs Auto gezwungen (vereinfacht geschrieben, natürlich nur).

Kaufleute haben aber sowieso oft eine etwas seltsame Sicht der Dinge. Viele denken halt extrem konservativ und an der Lebensrealität der Menschen vorbei, meiner Meinung nach auch der Grund dafür, warum sie vom Online-Handel oft gnadenlos in den Boden gestampft werden.
Es ist halt die Einstellung "des moch i jetz seit 40 Joa so, warum sollt i jetz wos ändan?"
Anekdote von einem Bekannten aus dem 7.: Er wollte hin und wieder was exquisites kochen, aber die Zutaten sind in der Umgebung nicht zu bekommen. Also fragt er bei einem kleinen Greißler / Obst-Gemüse-Tandler nach, ob sie ihm diese Zutaten bestellen können. "Nein, weil das kauft niemand". "Doch, ich würde es kaufen." "Trotzdem, des geht net, weü..."
Andere Geschichte von meiner Großmutter: Sie hat nicht mehr alleine einkaufen können, damals hats aber kaum Lieferung gegeben. Irgendein Greißler liefert aber. Anruf und Frage nach einer Angebots- und Preisliste: Hamma net. Was kostet die Zustellung: Kommt drauf an. Der Türke vom Eck hingegen hat geliefert, selbstverständlich gratis, und wenn meine Oma ein paar Tage nichts bestellt hat, hat er von selber (!) angerufen, um zu fragen, ob sie nicht doch was braucht. Und natürlich ist er auch nur wegen einem Liter Milch gekommen, kein Thema!

Aber ich verstehe schon die Probleme der Kaufleute auch. Wie in jedem Beruf muss man heute viel mehr machen als früher. Früher hat man einfach das Geschäft sauber halten müssen, Lagerhaltung, Buchhaltung, Kostenrechnung, das wars. Heute kommt noch dazu: Werbung, Produktplatzierung, Marketing, Onlinepräsenz, Konzepterstellung, Kundenbindungsprogramm. Das muss man als Einzelunternehmer auch erst einmal alles schaffen.

Ist bei Akademikern nicht anders. Früher hat man halt eine Studie getippt. Heute muss man sie auch layouten, Grafiken dazu machen, präsentieren, Kundenaquise, Projektaquise, das ganze Online stellen, dann noch Netzwerken...