Autor Thema: Elektrische Stadtbahn  (Gelesen 10881 mal)

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

Interessierte

  • Schaffner
  • **
  • Beiträge: 147
Elektrische Stadtbahn
« am: 09. November 2018, 05:58:43 »
Ich habe dazu zwei (naja, eigentlich ganz viele, aber zwei mal jetzt) Fragen zur elektrischen Stadtbahn:

Die wohl erste, leichtere Frage:

Hat die These etwas Denkmögliches an sich, dass der Name "Wiener elektrische Stadtbahn" (der sich amtlich bis zum Ende der Stadtbahn in den 80ern so [mit "e"] gehalten hat, wie sich u.a. aus der Verwaltungsliteratur wie Amtsblätter der Stadt Wien entnehmen lässt), schlichtweg bloß ein - wenn auch genialer - Marketingtrick der damaligen Gemeinde Wien (Stichwort: das Rote Wien) war: Dies um die von der Stadt übernommenen und elektrifizierten Wiental-, Donaukanal- und Gürtelstrecken, die nun mit schönen neuen Straßenbahnwagen befahren wurden, womit man sich damit von der stinkenden, rußenden und die Bahnanlagen und die Umgebung verschmutzenden Dampfstadtbahn, von der Staatsbahn des schwarzen Bundes betrieben bzw. schon einige Jahre eingestellt, abzuheben? Kurz: Um die nun von der Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen betriebenen elektrischen Stadtbahn der Bevölkerung rasch schmackhaft zu machen, damit allenfalls auch möglichst recht bald die Investitionen für Streckenumbau, Elektrifizierung und neues Rollmaterial zurückverdient werden kann?

Die zweite, wohl schwierigere Frage, betrifft die Frage nach der Konzession bzw. den Betrieb der elektrischen Stadtbahn:

Unzweifelhaft ist, dass die Gemeinde bei der Übertragung der von ihr seit 1925 betriebenen el. StB in ihr Eigentum (nebstbei genau betrachtet noch einmal teuer erkauft, da die rote Stadt im Gegenzug dem schwarzen Bund etliche Zuckerl geben musste, wie z.B. das Flugfeld Aspern, Benützungsrechte an Schulen etc. pp.) im Jahr 1934 gleichzeitig für diese Strecken die notwendigen Konzessionen für den Kleinbahnbetrieb der Stadtbahn erhalten hat.

Doch wie war das zwischen 1925 und 1934, als die Gemeinde die el. StB im straßenbahnähnlichen Betrieb betrieben hat, Streckeneigentümerin aber nach wie vor die Kommission für Verkehrsanlagen in Wien war? Errichtet wurden die Strecken ja als Vollbahn (die Gürtellinie als Hauptbahn, die Wiental- und die Donaukanallinie als Lokalbahnen "ganz im Charakter der [Stadtbahn-]Hauptbahnen ausgeführt"). Nach dem Umbau 1924/25 - Anhebung des Gleisbettes, Gleisverlegung näher an die Bahnsteige heran - war wohl nicht mehr an einen weiteren Vollbahnbetrieb zu denken ohne Rückbau. Irgendwo habe ich auch gelesen, wo ausdrücklich von der Abkopplung vom Vollbahnnetz der Staatsbahn die Rede ist.

Für mich ergeben sich daraus zwei Varianten:
a) die drei Stadtbahnstrecken wurden der Eigentümerin Kommission für Verkehrsanlagen sofort auf Kleinbahn umkonzessioniert und waren schon ab 1925 keine Vollbahn mehr?
b) offiziell blieben die Strecken zwar weiterhin als Vollbahn konzessioniert, die Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen als Betreiberin der von der Kommission auf 30 Jahre gepachteten Strecken bekam jedoch das Recht zugestanden, ihre el. StB als straßenbahnähnliche Kleinbahn zu betreiben?
Einleuchtend für mich ist, dass sich straßenbahnähnlicher Betrieb und gleichzeitig Vollbahn zu sein nicht miteinander ausgeht.

Für b) würde sprechen, dass mit § 2 in das Bundesgesetz vom 11. Jänner 1924, betreffend die Überlassung mehrerer Linien der Wiener Stadtbahn an die Gemeinde Wien - Städtische Straßenbahnen zur Elektrifizierung und Betriebsführung ein Sonderpassus hineingeschrieben wurde:
§ 2. Die Bundesregierung kann für die Dauer des im § 1 erwähnten Vertrages Abweichungen von den gesetzlichen und konzessionsmäßigen Rechtsgrundlagen der Wiener Stadtbahn im Rahmen der durch die geplante Art der sich ergebenden Notwendigkeit gestatten.

Nachtragsfrage:

War die "Wiener elektrische Stadtbahn" je irgendwann besonders im Bewusstsein der Bevölkerung verankert? Meiner Kenntnis nach war das immer - wenn überhaupt mit Zusatz "Wiener" - dann, jedenfalls in den maßgeblichen Jahrzehnten nach Betriebswiederaufnahme 1945, doch nur max. die "Wiener Stadtbahn"? Sind je in valider Anzahl Menschen mit der "elektrischen Stadtbahn" gefahren, analog wie andererseits ja "die Elektrische" für die Tramway durchaus gängig war? Wäre es daher nicht eher so, dass "Wiener Dampfstadtbahn" versus "Wiener Stadtbahn" wäre? (Stichwort: enzyklopädisches Lemma.)

Mit Dank für erhellende Anworten bzw. Diskussionsbeiträge,

sagt die Interessierte,
die selbst noch Stadtbahnbenützerin in den 1960ern und 1970ern war und die Bezeichnung "(Wiener) elektrische Stadtbahn" erst seit kurzem kennt.

Ferry

  • Geschäftsführer
  • *
  • Beiträge: 11477
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #1 am: 09. November 2018, 09:48:25 »
War die "Wiener elektrische Stadtbahn" je irgendwann besonders im Bewusstsein der Bevölkerung verankert? Meiner Kenntnis nach war das immer - wenn überhaupt mit Zusatz "Wiener" - dann, jedenfalls in den maßgeblichen Jahrzehnten nach Betriebswiederaufnahme 1945, doch nur max. die "Wiener Stadtbahn"? Sind je in valider Anzahl Menschen mit der "elektrischen Stadtbahn" gefahren, analog wie andererseits ja "die Elektrische" für die Tramway durchaus gängig war? Wäre es daher nicht eher so, dass "Wiener Dampfstadtbahn" versus "Wiener Stadtbahn" wäre? (Stichwort: enzyklopädisches Lemma.)

"Wiener elektrische Stadtbahn" war die amtliche Bezeichnung für dieses Verkehrsmittel, um sich von den zur Zeit ihrer Inbetriebnahme noch überwiegend mit Dampf betriebenen Vollbahnstrecken abzugrenzen. Umgangssprachlich wurde aber immer nur von der "Stadtbahn" (ohne "Wiener", welche Stadtbahn sollte es sonst noch in Wien geben?) gesprochen. Ich habe selbst auch noch Stadtbahnzeiten und die N1/n2 Züge erlebt und kann mich noch erinnern, wie mir meine Mutter einmal auf die Frage nach einem Fahrziel in Währing gesagt hat: "Da fahrst mit der Stadtbahn bis Währinger Straße und dann mit dem 41er.". Interessanterweise war die Verwendung von Linienbezeichnern bei der Stadtbahn nicht üblich; ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ein solcher umgangssprachlich verwendet worden wäre. Bestenfalls war von der "Wiental-Linie" und der "Gürtel-Linie" die Rede, ansonsten war die Stadtbahn einfach nur "die Stadtbahn".
Weißt du, wie man ein A....loch neugierig macht? Nein? - Na gut, ich sag's dir morgen. (aus "Kottan ermittelt - rien ne va plus")

Interessierte

  • Schaffner
  • **
  • Beiträge: 147
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #2 am: 18. November 2018, 01:32:14 »
War die "Wiener elektrische Stadtbahn" je irgendwann besonders im Bewusstsein der Bevölkerung verankert? Meiner Kenntnis nach war das immer - wenn überhaupt mit Zusatz "Wiener" - dann, jedenfalls in den maßgeblichen Jahrzehnten nach Betriebswiederaufnahme 1945, doch nur max. die "Wiener Stadtbahn"? Sind je in valider Anzahl Menschen mit der "elektrischen Stadtbahn" gefahren, analog wie andererseits ja "die Elektrische" für die Tramway durchaus gängig war? Wäre es daher nicht eher so, dass "Wiener Dampfstadtbahn" versus "Wiener Stadtbahn" wäre? (Stichwort: enzyklopädisches Lemma.)

"Wiener elektrische Stadtbahn" war die amtliche Bezeichnung für dieses Verkehrsmittel, um sich von den zur Zeit ihrer Inbetriebnahme noch überwiegend mit Dampf betriebenen Vollbahnstrecken abzugrenzen. Umgangssprachlich wurde aber immer nur von der "Stadtbahn" (ohne "Wiener", welche Stadtbahn sollte es sonst noch in Wien geben?) gesprochen. [...] Bestenfalls war von der "Wiental-Linie" und der "Gürtel-Linie" die Rede, ansonsten war die Stadtbahn einfach nur "die Stadtbahn".

Ja, eben. Das meine ich auch.
In der Wikipedia ist man, besser gesagt: der betreffende deWP-Autor, mit allem Bestemm anderer Meinung. :-( ... So wie er sich - unter vielem anderen auch - mit Bestemm darauf kapriziert, die Donaukanal- und Wientallinie wären im letzten Moment noch von Lokalbahnen zu Hauptbahnen hochkonzessioniert worden, weil er dies bei Kortz (1905), Wien im XX. Jahrhundert, verklausuliert herausgelesen haben will (dummerweise hat er halt nicht weitergelesen im selbigen Text, das hätte ihm ein paar Absätze weiter seine Interpretation umgehend widerlegt - typische wie durchgängig Arbeitsweise dieses deWP-Autors) ...

Ob sich noch irgendjemand findet, der was Belastbares zu der Fragestellung die Konzession betreffend sagen kann?

Ergänzend noch, abseits der Konzessionsfrage, drei zusätzliche Fragen im Themenbereich an die hiesigen Spezialisten (und Spezialistinnen?) nachgeschickt:
  • Ab 1957 fuhr die Stadtbahn wohl (wie später per Bescheid vom 3. Sept. 1976 die U-Bahn Type U, siehe hierzu letzter Absatz in meinem Posting vom 17.11. in U-Bahn > Notbremsung im Tunnel) unter dem Ausnahmetatbestand "Straßenbahnen besonderer Art" nach § 30 StrabVO 1957?
    Seit Änderung des Eisenbahngesetzes (EisbG 1957), BGBl. Nr. 452/1992 (vgl. Textgegenüberstellung in Regierungsvorlage, S. 33), womit unter dem Begriff der Straßenbahn die bis dahin im Gesetz fehlenden U-Bahnen u.dgl. aufgenommen und nunmehr ausdrücklich unter § 5 Abs 1 Z 2 EisbG 1957 als Straßenbahn subsumiert wurden, sowie der späteren StrabVO 1999, gibt es ja für die seit den 70er Jahren fahrende U-Bahn keine Zweifel mehr.
    Wie war das demnach für die Stadtbahn ab 1925 über die unseligen Jahre 1934 bis 1938 bzw. 1938 bis 1945 und in der zweiten Republik 1945-1957?
  • Hat die aufgestellte Behauptung in der deWP im Artikel Wiener Elektrische [sic!] Stadtbahn (in dem, wie auch im zugehörigen Artikel Wiener Stadtbahn, samt den beiden abstrusen, wider die Wirklichkeit seienden Lemmata, mE ganz viel Unsinn und ganz viele eigene Schlussfolgerungen des WP-Autors und dessen Eigeninterpretationen von ihm gelesener Texte drinnen stehen!) die im Abschnitt Umkonzessionierung zur Straßenbahn nach dem "Anschluss" Österreichs (1938) etwas auf sich?, wonach, Zitat, kursiv und Anführungszeichen übernommen:
    "Im Zuge dieser Rechtsumstellung [reichsdeutsche BOStrab etc., wie in den Sätzen davor angeführt; Anm.] klassifizierte das deutsche Reichsverkehrsministerium 1938 auch die Wiener Elektrische Stadtbahn als 'Straßenbahn'. Eine direkte Folge davon war, dass ihr Fahrplan fortan nicht mehr im amtlichen Kursbuch aufgeführt war. Im ab dem 15. Mai gültigen Sommerkursbuch des Jahres 1939 ist beispielsweise nicht mehr enthalten." - Zu letzterem ist als Beleg, ohne Direktlink, auf Deutsches Kursbuch Sommer 1939 verlinkt.
    Das ist mbMn Stuß - wieso soll ausgerechnet erst 1938 vom Reichsverkehrsministerium die el StB als Strab klassifiziert worden sein und der Betrieb (wohlgemerkt, nicht die Strecken, die wahrscheinlich wirklich noch bis 1934 als Vollbahnstrecken galten) nicht längst als Strab klassifiziert gewesen sein?, sprich seit 1925 unter der Ägide der Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen, spätestens aber seit der Eigentumsübertragung der betreffenden Stadtbahnstrecken im Jahr 1934, wo doch an die Stadt Wien die Konzessionserteilung als Kleinbahn (sic!) erging. Warum zum Henker soll hier zum Strab-Betrieb eine Verbindung mit der "Anschluss"-Gesetzgebung 1938 gegeben gewesen sein?
  • Durch den WP-Autor (der, das sei an dieser Stelle erwähnt, als mutmaßlich gleichnamiger twf-"Schwarzfahrer" sich reichlich u.a. des twf bedient/e, zwar zulässig durch Übernahmen historischer Bild mit abgelaufenen Urheberrecht, sowie aber auch - ohne Quellennennung - Textverwurschtung in "seine" deWP-Artikel) steht überdies in der sog. Infobox ganz am Anfang des deWP-Artikels zur elektrischen Stadtbahn als Kursbuchstrecke: 1, 11 drinnen, wobei der Autor sich dabei auf die von ihm als Beleg in der Fußnote nicht verlinkte "Wiener Ortsverkehrs-Karte, Oktober 1926" beruft. (Diese ist mitsamt den zugehörigen Kursbuchseiten im hierorts wohlbekannten fpdwl-Forenarchiv zu finden im Reply #3 und ff. von Conducteur am 15.10.2009 im Thread "Eingestellter innerstädtischer Eisenbahn-Personenverkehr".) Darin sind zwar wirklich in der eingebundenen Ortsverkehrs-Karte von 1926 die von der Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen elektrifizierten und betriebenen Stadtbahnstrecken weiterhin als Kursbuchstrecken 1 und 11 drinnen, in den Fahrplanbildern selbst sind sie ab 1926 selbstredend jedoch nicht mehr aufscheinend, was uns wiederum zu Pkt. 2 zuvor führt: Die elektrifizierten Stadtbahnstrecken mögen ja vielleicht wirklich noch bis 1934 als Vollbahnstrecken gegolten haben, aber die elektrische Stadtbahn als straßenbahnähnlicher Betrieb war es doch seit Betriebsaufnahme 1925 nicht mehr? Spätestens seit 1934, nun auch mit den Strecken mit der Konzession als Kleinbahn, doch schon erst recht nicht? In Summe waren also die Strecken der elektrischen Stadtbahn, wenn schon überhaupt, im Vergleich zur Gesamtbetriebszeit doch ohnehin nur sehr kurze Zeit kursbuchrelevant, sodass schon aus diesem Blickwinkel die Angabe der Kursbuchstrecken in der sog. Infobox ausgemachter Humbug ist, oder?
    BTW: Ebenfalls in der sog. Infobox weist der Autor drei Betreiber aus - was insofern auch Quatsch ist, da die Betreiberin ja immer dieselbe geblieben ist, nur Name und Rechtsform (einerseits als eigene im Handelsgesetzbuch/Firmenbuch eingetragene Gesellschaften und damit mittelbar der Stadtverwaltung unterstellt, sowie andererseits als Abteilung der zuständigen Magistratsabteilung geführt) haben sich halt mehrmals geändert.

W_E_St

  • Referatsleiter
  • *
  • Beiträge: 7242
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #3 am: 10. Mai 2019, 20:01:02 »
Meine einzige nicht-fachliche Quelle: Johannes Mario Simmel lässt soweit ich mich erinnern in Das geheime Brot der Armen seinen Protagonisten überlegen, ob er sich zur Beendigung seines Lebens unter die Räder der elektrischen Stadtbahn werfen soll. Ansonsten kenne ich immer nur Stadtbahn alleine, ohne Zusatz. Meine Großmutter hat das bis ans Ende ihres langen Lebens verwendet. Die Straßenbahn war bei ihr "die Elektrische", sie ist an der Elektrischen Lokalbahn Graz - Mariatrost aufgewachsen.
"Sollte dies jedoch der Parteilinie entsprechen, werden wir uns selbstverständlich bemühen, in Zukunft kleiner und viereckiger zu werden!"

(aus einer Beschwerde über viel zu weit und kurz geschnittene Pullover in "Good Bye Lenin")

Taurus

  • Zugführer
  • *
  • Beiträge: 518
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #4 am: 10. Mai 2019, 21:44:18 »
Welche Einteilungen gab es eigentlich damals?
Heute gibt es Vollbahnen (unterteilt in Haupt- und Nebenbahnen) sowie Straßenbahnen.




b) offiziell blieben die Strecken zwar weiterhin als Vollbahn konzessioniert, die Gemeinde Wien - städtische Straßenbahnen als Betreiberin der von der Kommission auf 30 Jahre gepachteten Strecken bekam jedoch das Recht zugestanden, ihre el. StB als straßenbahnähnliche Kleinbahn zu betreiben?
Einleuchtend für mich ist, dass sich straßenbahnähnlicher Betrieb und gleichzeitig Vollbahn zu sein nicht miteinander ausgeht.


Ich denke man hat die Vollbahnkonzession so belassen. Man hat wohl kaum mit der neuen Betriebsform dagegen verstoßen oder war dadurch im Betrieb eingeschränkt.
Abgesehen davon: Die Stadtbahn war einer Vollbahn vom Betrieb sowieso auch näher als eine Straßenbahn.

Straßenbahnähnlicher Betrieb und Vollbahn geht sich unter Umständen schon auch aus.

Diese Uraltkonzessionen sind sowieso von den Begrifflichkeiten (aus heutiger Sicht) mit Vorsicht zu genießen -> Die WLB wäre z.B. so eine Vollbahn mit straßenbahnähnlichem Betrieb. Ursprünglich konzessioniert folgendermaßen: " als normalspurige Localbahn (Dampftramway) auszuführenden Locomotiveisenbahn..."


Firobuz

  • Fahrgast
  • *
  • Beiträge: 3
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #5 am: 23. Mai 2019, 23:07:04 »
Nein liebe Interessierte,

die Wiener Elektrische Stadtbahn von 1925 war ganz sicher kein "Marketingtrick" der Gemeinde Wien, sie war de facto sogar ein gänzlich neues Verkehrssystem! Als da wären:

- die Elektrifizierung selbst
- neue Bezeichnung
- neuer Betreiber
- Einführung eines starren Taktfahrplans
- größeres Zugangebot, insbesondere außerhalb der Hauptverkehrszeiten
- eigens neu gebaute Unterwerke
- auf den oberirdischen Abschnitten Tageslichtsignale statt Formsignale
- auf den Tunnelabschnitten neue Lichtsignale
- neue Signalbegriffe (Grün = Frei, Gelb = Vorsicht), auf den übrigen Eisenbahnen Österreichs erst ab 1934 gültig
- Verkürzung der Blockabstände für kürzere Zugfolgen

- Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit
- Erhöhung der Reisegeschwindigkeit
- elektrische Tunnelbeleuchtung
- elektrische Stationsbeleuchtung
- elektrische Innenraumbeleuchtung statt der vormaligen Gaslampen
- elektrische Zugzielanzeiger auf den Bahnsteigen
- einfache Mittelpufferkupplungen statt klassischer Zug- und Stoßeinrichtungen mit Seitenpuffern und Schraubenkupplungen
- neue elektromechanische Stellwerke
- Auflassung der durch Blockwärter besetzten Blockposten
- Einführung moderner Druckluftbremsen

- automatische Notbremsung bei Zugtrennungen
- Einführung von Fahrsperren zwecks Vermeidung des Überfahrens rot zeigender Signale
- komplett neue Fahrzeuge
- längere Wagen (11,6 statt 10,0 m)
- Abschaffung des Lokomotivbetriebs zugunsten von Trieb- und Beiwagen
- Reduzierung des Wagenbestands von 864 auf 450 Wagen
- massive Erhöhung des Stehplatzanteils auf Kosten des Sitzplatzanteils, dadurch deutliche Erhöhung der Gesamtkapazität je Zug
- Einführung von Längssitzbänken bei der Hälfte aller Sitzplätze, während man bei der Dampfstadtbahn immer in oder gegen die Fahrtrichtung saß
- Abschaffung der Vorhänge, die bei der Dampfstadtbahn selbst in der Holzklasse Standard waren
- Beschaffung fahrbarer Umformerwagen samt Anschlussstellen

- neues Personal
- Reduzierung des Zugbegleitpersonals von drei auf zwei Mann je Zug durch Entfall des Heizers
- Verknüpfung mit dem Straßenbahnnetz samt durchgehendem Betrieb in Form der Linie 18G
- Trennung vom Eisenbahnnetz
- drei neue Betriebsbahnhöfe
- zwei neue Aufnahmsgebäude in Hütteldorf-Hacking und Heiligenstadt
- im Gegensatz zu den Dampfstadtbahnwagen hatten die neuen Fahrzeuge Notbremsen
- Entfall des Betriebs in die Vororte
- Entfall der Überleitstellen für Bauzüge, die zuvor in bestimmten Stationen vorhanden waren
- feste Linienbezeichnungen in Form von Buchstaben

- Einführung von Linienkennfarben (auf den Netzplänen)
- Wendeschleifen statt Umsetzbetrieb
- zusätzliche Wendeanlage in Hietzing
- geringerer Mindestradius
- Anpassung der Bahnsteighöhe
- Reduzierung der Bahnsteiglänge von 120 auf 115 Meter
- Verkürzung der maximalen Zuglänge von 111,3 auf 104,4 Meter
- Nur noch maximal neun statt zuvor zehn Wagen je Zug
- Verkleinerung des Abstands zwischen Bahnsteigkante und Gleismitte
- Verkleinerung des Lichtraumprofils

- Verzicht auf die Übergangsmöglichkeit zwischen den Wagen
- geschlossene statt offene Plattformen
- Verzicht auf das Dreilicht-Spitzensignal
- Verzicht auf das Dreilicht-Zugschlusssignal
- Warnglocken statt Signalhörner
- Anpassung der Weichen und Kreuzungen für die Radsätze der Straßenbahnwagen (mit geringerer Rillenweite von 30mm am Radlenker)
- nachträglicher Einbau von Leitschienen in engeren Kurven
- neuer Tarif
- teilweise Übernahme des Fahrkartenverkaufs an geringer frequentierten Stationen durch die Sperrenschaffner bei gleichzeitiger Schalterschließung
- Abschaffung der Polsterklasse

- Beheizt waren bei der elektrischen Stadtbahn nur noch die Triebwagen, nicht aber die Beiwagen
- die Innenraumbeleuchtung erfolgte bei der elektrischen Stadtbahn tagsüber nur noch bei Passage eines Tunnels
- Abschaffung der Postbeförderung
- Abschaffung der Güterbeförderung
- partielles Fahren auf Sicht (in den Schleifen und in Michelbeuern)
- partielle Verwendung von Rillenschienen (in den Schleifen)
- Abschaffung der Gepäckaufgabe, damit endete auch die Ausgabe eigener Gepäckmarken
- Abschaffung der Bordtoiletten
- verspäteter Betriebsbeginn am 1. Mai
- Verbot der Hundebeförderung, wenngleich ab September 1926 wieder aufgehoben

- feste Zugnummern die den ganzen Tag über gleich blieben, statt individueller Zugnummern für jede Fahrt bei der Dampfstadtbahn
- neues äußeres Erscheinungsbild in Wiener Stadtfarben
- Reduzierung der Raucherwagen, bei der Dampfstadtbahn zwei Nichtraucherwagen und sonst nur Raucherwagen, bei der elektrischen Stadtbahn zwei Raucherwagen und sonst nur Nichtraucherwagen
- nur noch die Raucherwagen wurden explizit gekennzeichnet, nicht mehr aber die Nichtraucherwagen
- Zugzieltafeln fortan nicht mehr an der Front eines Zuges sondern seitlich
- Fahrzielanzeigen auch in den Wagen, die sogenannte Innenbesteckung
- neue Hersteller: weil die Waggonfabriken Ringhoffer, Nesselsdorf und Brünn-Königsfeld jetzt im Ausland lagen und Graz und Simmering nicht alles alleine herstellen konnten, mussten bei den elektrischen Stadtbahnwagen zusätzlich die Waggonfabrik Enzesfeld und die Lohner-Werke einspringen
- die elektrischen Stadtbahnwagen hatten im Innenraum Reklametafeln
- Fahrgastflussregelung beim Ein- und Ausstieg
- neue Spurweite von 1440 mm analog zur Straßenbahn

- neue schematische Netzpläne, immerhin noch bevor 1931 die legendäre schematische Londoner "tube map" erschien
- Abschaffung der Bahnsteigkarten
- Höhere Aufkeilweite (Abstand der Radrücken): Dampfstadtbahn 1360 mm / WESt 1380 mm
- Höheres Spurmaß: Dampfstadtbahn 1425 mm / WESt 1432 mm
- Verkürzung der Bahnsteigdächer um den Lauf der Stromabnehmer nicht zu behindern
- neue Telefonanlagen für die interne Kommunikation
- Ertüchtigung der Schienenstöße für eine gute Rückstromführung, das heißt Überbrückung durch Kupferseile
- neue Bahndienstfahrzeuge bzw. Anpassung vorhandener Straßenbahndienstfahrzeuge für den Stadtbahnbetrieb

Das sind immerhin stolze 88 (!!!) Punkte, wenn natürlich auch nicht alle gleichwertig. Sorry, aber radikaler kann man ein vorhandenes Verkehrssystem gar nicht umstellen! Da wurde quasi alles von rechts auf links gedreht, außer der Weiterverwendung der alten Otto-Wagner-Stationsbauten blieb da nicht wirklich was übrig aus Kaisers Zeiten. Abgesehen davon lösten sich die beiden Verkehrsmittel auch nicht nahtlos ab, denn dazwischen gab es ja eine fast siebenjährige Betriebspause. Und noch was darf man nicht außer Acht lassen: die W.E.St. beförderte ungefähr doppelt so viele Fahrgäste (1913: 47 Millionen, 1926: 90 Millionen). Der eher beschauliche Alltagsbetrieb vor dem Ersten Weltkrieg war also 1925 auch endgültig Geschichte, die neue Stadtbahn ein echtes Massenverkehrsmittel...

Und dass die Wiener selbst auch nach 1925 weiterhin nur kurz von "der Stadtbahn" sprachen ändert an den oben aufgeführten Tatsachen nicht wirklich was. Der Volksmund ist halt traditionell faul und kürzt gern ab. Schon "Stadtbahn" war auch nur eine Abkürzung für "Stadteisenbahn", warum sollte also jemand ohne Not "elektrische Stadtbahn" sagen, wenn es eh nur die eine gab...




Bus

  • Obermeister
  • *
  • Beiträge: 3373
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #6 am: 23. April 2021, 20:52:04 »

Katana

  • Verkehrsführer
  • *
  • Beiträge: 2165
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #7 am: 23. April 2021, 21:32:47 »
Ein ausführlicher Artikel unter https://www.derstandard.at/story/2000125864097/die-wiener-stadtbahn-otto-wagners-gesamtkunstwerk-stadtbahn
Zitat
Die Wiener Stadtbahn: Otto Wagners Gesamtkunstwerk
Der Vorläufer der heutigen U-Bahn war ein 39 Kilometer langes Mammutprojekt

BLOG
Friederike Kraus 23. April 2021

Ich habe den größten Teil meines Berufslebens in einem Stadtbahnbogen zwischen Sechshauser Gürtel und Gumpendorfer Gürtel verbracht. Alle paar Minuten hörte ich eine Garnitur der Gürtellinie GD oder DG, später der U6, über meinen Kopf hinwegrumpeln, aber das nahm ich gar nicht mehr wahr, ebenso wenig wie die Tatsache, dass meine Betriebsräume Teil eines denkmalgeschützten Gesamtkunstwerks waren: der Stadtbahn von Otto Wagner.

100.000 Arbeiter und Arbeiterinnen

Im Jahr 1891 wurden die jenseits des Linienwalls gelegenen Vororte nach Wien eingemeindet, der Linienwall wurde geschleift. Wien hatte nun 19 Bezirke und war nach Paris und Berlin die drittgrößte Stadt Kontinentaleuropas, was gewaltige infrastrukturelle Herausforderungen mit sich brachte. Einerseits waren militärische Überlegungen, andererseits der Wunsch nach einem effizienten innerstädtischen Verkehrsnetz maßgebend. Jedenfalls wurde die Forderung nach einer Verbindung der am Stadtrand liegenden Bahnhöfe untereinander sowie nach einer Verbindung in die Stadt gestellt und sollte mit der Errichtung einer Dampfstadtbahn erfüllt werden. Die schon vorhandene Verbindungsbahn zwischen Süd- und Nordbahnhof würde in das Mammutprojekt dieser neuen Dampfstadtbahn integriert und gleichzeitig die Wienfluss- und Donaukanalregulierung in Angriff genommen werden. Die Koordination aller Aufgaben übernahm die neu gegründete Commission für Verkehrsanlagen in Wien, die Bauführung der Stadtbahn die k.k. Generaldirektion der österreichischen Staatsbahnen.

Die architektonische Ausgestaltung der gesamten Anlage wurde dem Architekten Otto Wagner übertragen, der für die Durchführung dieser gewaltigen Aufgabe bis zu 70 Mitarbeiter beschäftigte, darunter heute berühmte Architekten wie Josef Hoffmann, Josef Plečnik und Joseph Olbrich. Finanziert wurde das Projekt durch die Ausgabe von Anleihen, die Durchführung war aber nur durch den Einsatz der Arbeitskraft von bis zu 100.000 Arbeitern und Arbeiterinnen aus allen Teilen der Monarchie möglich.

Ausgeführt wurden folgende Linien der dampfbetriebenen Bahn, aufgrund von topografischen und finanziellen Gegebenheiten teils in Tief- und teils in Hochlage.

[.............]



N1

  • Verkehrsführer
  • *
  • Beiträge: 2174
Re: Elektrische Stadtbahn
« Antwort #8 am: 25. April 2021, 22:07:59 »
Ein ausführlicher Artikel unter https://www.derstandard.at/story/2000125864097/die-wiener-stadtbahn-otto-wagners-gesamtkunstwerk-stadtbahn
Wie üblich unter Nichtberücksichtigung der Geschichte zwischen 1925 und 1968.
"Der Raum, wo das stattfand, ist ziemlich groß."
Hans Rauscher