Anfang September führte eine Reise ins oberschlesische Industriegebiet (Großraum Katowice). Man kann sich diese Agglomeration etwa wie das Ruhrgebiet vorstellen: Etliche kleinere und mittlere Städte sind durch ein zusammenhängendes Straßenbahnnetz verbunden, das 2012 eine Streckenlänge von ca. 171 Kilometern aufweist. Die Straßenbahnen verkehren in den Stadtzentren entweder gemeinsam mit dem Individualverkehr oder auf selbstständigen Gleiskörpern, zwischen den dicht besiedelten Gebieten haben die Strecken durchwegs Lokalbahncharakter, oft eingleisig in Seitenlage. Typisch für die Städte sind breite Straßen, die genügend Platz für eine separierte Führung der Straßenbahn bieten wie hier in Sosnowiec, wo Triebwagen 635 auf Linie 24 in die Haltestelle Ostrogórska einfährt.
Im gesamten Netz dominieren die für alle Betriebe Polens typischen Triebwagen des dortigen Herstellers Konstal. Der Typ Konstal 105Na wurde insgesamt in fast 1.500 Exemplaren hergestellt. Die unverwüstlichen vierachsigen Triebwagen sind zumeist schlicht ausgestattet und verkehren bei den Tramwaje Śląskie solo oder in Doppeltraktion. Die schweren Drehgestelle kommen auch mit schlechtem Oberbau ganz gut zurecht, was manchmal bitter nötig ist.
Generell ist die Infrastruktur der Straßenbahn in schlechtem Zustand. Einige Strecken wurden aber bereits modernisiert und befinden sich in mustergültigem Zustand – sowohl, was den Oberbau, aber auch, was die Haltestellen betrifft. Einziger Mangel: Es gibt generell keine dynamische Fahrgastinformation, also weder digitale Anzeigen noch Informationslautsprecher. Im Störungsfall ist man also auf Mundpropaganda, Warten oder eigenständiges Ausweichen angewiesen, doch dazu später mehr. Das Verkehrsunternehmen ist im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, Verbesserungen herbeizuführen. Gleichzeitig hat man gewisses Interesse an der Vergangenheit, so wurde beispielsweise Triebwagen 338 nach einem Unfall annähernd in den Ursprungszustand zurückversetzt und ist so im Linieneinsatz zu finden, hier auf Linie 14 in Szopienice in der Obrońców Westerplatte.
Auch einige Konstal-Triebwagen wurden teilmodernisiert und erhielten neue Fronten samt elektronischen Anzeigen. Ein harmonisches Bild kommt dabei jedoch nicht heraus, wie man bei Triebwagen 762 erkennt (Szopienice, Wiosny Ludów).
Das weit verzweigte Netz besteht aus Linien, die jeweils mehrere Ballungsräume miteinander verbinden und alle 10 bis 30 Minuten verkehren. In den größeren Städten, wo mehrere Linien aufeinandertreffen, ergibt sich somit ein durchaus dichter Takt. Allerdings erfordert die Netzstruktur auch Umsteigeknoten abseits des stark besiedelten Raums und so darf man sich nicht wundern, wenn sich vergleichsweise mitten im Nirgendwo mehrgleisige Schleifenanlagen befinden, wo etliche Linien zusammentreffen und teilweise auch enden wie in Chebzie, einem Ortsteil von Ruda Śląska.
In den Innenstädten kann man die Straßenbahn auch in verkehrsberuhigten Bereichen antreffen, etwa im Zentrum von Zabrze, wo die Linien 1, 3, 4 und 5 durch eine Beinahe-Fußgängerzone fahren (ul. Wolności). Autoverkehr ist hier nur mit erheblichen Einschränkungen und nur in einer Fahrtrichtung möglich – geradezu fortschrittlich, wenn man bedenkt, dass Gehsteigparken in Polen teilweise sogar vorgeschrieben ist!
Manchmal sieht es aber nur wenige Meter abseits der renovierten Gebiete deutlich trostloser aus:
Wie das Straßenbahnnetz lässt sich auch der Gebäudezustand in der Region als wechselhaft beschreiben. Teilweise sind die Häuser mustergültig renoviert, teilweise befinden sie sich im Stadium fortgeschrittenen Verfalls. Bisweilen wird versucht, Mängel durch dickes Auftragen von Farbe zu kaschieren – das trifft wiederum auch auf die Straßenbahn zu. Die Bevölkerung scheint diese Improvisationskunst aber keineswegs negativ zu sehen: Über die Jahrzehnte hat man sich damit arrangiert und betrachtet das als den Normalzustand.
Das Straßenbahnnetz ist in den letzten Jahren geschrumpft. Etliche Strecken wurden verkürzt oder stillgelegt. So enden beispielsweise die Linien 1 und 4 am Betriebsbahnhof Gliwice (Gliwice Zajezdnia), die weiterführende Strecke wird nicht mehr bedient.
Apropos Linie 1: Hier sind wir beim eigentlichen Zweck dieser Reise angelangt, nämlich beim Besuch der aus Wien abgegebenen E1, denen in Polen ein zweiter Frühling bevorsteht. Die Wagen wurden einer umfangreichen Modernisierung unterzogen (neue Sitze, Neulack, Fahrerkabine, Fahrerklimaanlage, elektronische Anzeigen, LED-Leuchten) und auch bei der Türsteuerung ein wenig adaptiert (zentrales Öffnen, Zulaufsperre, Lichtschranken bei Tür 1). 934 ex 4810 verlässt die Remise Gliwice.
Allerdings war an diesem Tag die Reise nach kurzer Zeit zu Ende, denn in Zabrze hatte sich an der Kreuzung Wiktora Brysza/Wolności ein fremder Verkehrsunfall ereignet. Es handelte sich dabei um eine simple Vorrangverletzung, die mit leichtem Blechschaden endete und keine Verletzten forderte. Dennoch ließ sich die Polizei nahezu zwei Stunden Zeit, die Unfallstelle zu räumen und begnügte sich damit, im mehr als behäbigem Tempo Unfalldaten aufzunehmen, Fotos anzufertigen und die gesamte Kreuzung (inklusive Gehsteigbreiten und ähnlichem Nonsens) ausführlichst zu vermessen. Die Feuerwehrmänner regelten in voller Montur (mit Helmen!) den Verkehr, während die vier an dieser Stelle verkehrenden Straßenbahnlinien unterbrochen waren, was in weiterer Folge zu einer Totaleinstellung der Betriebs auf allen vier Linien (1, 3, 4, 5) führte. Der im Hintergrund sichtbare E1 935 ex 4500 hat auf der Zielanzeige invers AWARIA (Havarie, Panne) stehen, nachdem der Fahrer aus Langeweile ein wenig mit dem IBIS gespielt hatte.
Kurzführungen konnten nicht beobachtet werden, stattdessen stapelte sich aus allen Richtungen der komplette Auslauf an der Unfallstelle. Auch der im roten Fiat herbeigeeilte Verkehrsmeister (nadzór ruchu = Verkehrsaufsicht) bemühte sich keineswegs, die Einsatzkräfte zur raschen Räumung der Unfallstelle zu bewegen... aber er wusste wohl, dass er damit keinen Erfolg haben würde, und begab sich somit auch in die Rolle des Zuschauers.
Zugstau ...
... in allen Richtungen.
Nach diesem unrühmlichen Kapitel polnischen Verkehrsmanagements wenden wir uns wieder erfreulicheren Dingen zu wie der zweiten E1-Linie, die von Mysłowice nach Milowice, einen Vorort von Sosnowiec, führt. In der 3 Maja, gleich neben dem Hauptbahnhof von Sosnowiec, treffen wir auf 936 ex 4516.
Bei der Haltestelle Wysoka trifft 920 ex 4503 auf ein etwas älteres Wohnhaus, das ringsum von den für Osteuropa typischen Plattenbauten umgeben ist. Was den Fußgängerverkehr betrifft, ist hier noch viel aufzuholen: Nicht nur an dieser Stelle wird der Fahrgast zum Überqueren der Fahrbahn in den Untergrund gedrängt. Aber auch sonst empfiehlt es sich tunlichst, beim Überqueren von Fahrbahnen in Polen große Vorsicht walten zu lassen, denn einerseits ist Autolenkern das Rechtsabbiegen bei Rot erlaubt, andererseits halten nur Fahrschulautos vor Zebrastreifen, um Fußgänger passieren zu lassen.
Ebenso schlecht bestellt ist es um Beschleunigungsmaßnahmen bei der Straßenbahn. Zwar existieren viele selbstständige Gleiskörper und auch eigene Bahnkörper, an Kreuzungen mit dem Individualverkehr kann die Straßenbahn jedoch kaum jemals eine eigene Phase im Ampelumlauf anfordern – und wenn doch, so kommt diese so spät, dass ein Anhalten dennoch unvermeidlich ist.
Ähnlich vorsintflutlich präsentiert sich auch die Überwachung der vielen eingleisigen Stellen. Zur Anwendung kommt ein "elektrisches Stabsystem". Statt eines Signalstabes schaltet der Fahrer mittels Vierkant Glühbirnen aus oder ein, die den Belegungszustand des eingleisigen Abschnitts anzeigen. Dieses Bild zeigt also nicht etwa einen missglückten Versuch zur Straßenbeleuchtung, sondern betriebswichtige Signaleinrichtungen. Die Verkabelung dieser in Gitterboxen montierten Glühbirnen erfolgt im Allgemeinen mittels fliegender Drähte samt ungeschützten Lusterklemmen. All diese Dinge sind üblicherweise windschief angebracht und mit einer Unzahl an Lackschichten bedeckt.
Eine Besonderheit ist aktuell im Zentrum von Katowice zu finden: Wegen umfangreicher Bauarbeiten am Rynek wurde die Straßenbahnstrecke in der Warszawska gekappt und verfügt nur über eine stumpfe Endstelle, wo über eine Kletterweiche gewendet wird. Aus diesem Grund wird die (Baustellen-)Linie 40 mit Düwag-Zweirichtungswagen betrieben, die 2010 aus Frankfurt übernommen wurden.
Eine Herausforderung stellt übrigens der Fahrscheinerwerb dar. Fahrscheinautomaten gibt es nur an wenigen Haltestellen in manchen Stadtzentren. Sofern man ein 24-Stunden-Ticket möchte (das im gesamten Netz gilt), ist man nämlich auf diese Automaten angewiesen, da man an den allerorts vorhandenen Kiosken nur Einzelfahrscheine verschiedener Preisstufen erhält (wofür man allerdings ein paar Brocken Polnisch parat haben sollte). Wo man die auf der Tarifübersicht ausgewiesenen 48-Stunden-Karten erhält, bleibt allerdings ein ungelöstes Rätsel – die Automaten, die leider nur Münzen annehmen, spucken sie nicht aus.
Zu guter Letzt noch ein Bild der Linie 38, die wohl den höchsten Bekanntheitsgrad aller Linien der Tramwaje Śląskie aufweist, denn sie verkehrt planmäßig mit offenen Zweiachsern des Typs Konstal N (Baujahr 1949!). Da die Strecke keine zwei Kilometer lang ist, genügt für den Normalauslauf im 20-Minuten-Takt ein einziger Wagen, hier Nr. 954 bei der Fahrt vom in der Mitte der Strecke gelegenen Friedhof Mater Dolorosa Richtung Süden ins Zentrum vom Bytom.