Mordfall Ilona Faber.
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Kleiner Exkurs für die, die es interessiert...
Kurz nach neun Uhr früh am 15. April 1958, an einem kühlen Frühlingstag, fand der diensthabende Polizist bei seinem Rundgang hier, halbvergraben, Damenwäschestücke, einen Regenschirm, und wenige Meter weiter ragte ein Frauenkopf aus der Erde.
Bereits vor seiner grässlichen Entdeckung hatte der Polizist einen heruntergekommen wirkenden Mann in Gummistiefeln, einen Vagabunden der Großstadt, gesehen, der sich hinter den Arkaden des Denkmals aufhielt. Binnen kurzem traf die Mordkommission des Sicherheitsbüros (das eine legendäre, hochangesehene Institution war, die es nach der neulich erfolgten Polizeireform nicht mehr gibt) am Tatort ein. Mit besonderer Akribie legte sie die im lockeren Erdreich bis zum Kopf verscharrte nackte Leiche frei, und nach einer ersten Untersuchung brachte man das Opfer ins Gerichtsmedizinische Institut.
Mittlerweile nahmen die Beamten den Sandler fest. Es handelte sich um Johann Gassner, geboren 1928, zuletzt gemeldet in Drosendorf. Sein Strafregister wies sechs Vorstrafen auf, unter anderem wegen Einbruch, Betrug, Veruntreuung und Homosexualität.
Der Täter und das Opfer
Auf die Frage, warum sich Gassner beim Russendenkmal aufgehalten habe, gab er an, dass er im Gebüsch seine Aktentasche mit Werkzeugen versteckt und diese von seinem Standort aus beobachtet habe. In der Tasche fand man Stemmeisen, Hammer, Meißel, Schraubenzieher und Zange. Er sei arbeits- und unterstandslos, weil ihn seine Lebensgefährtin am Vortag hinausgeworfen habe. Die Frauenleiche, die in unmittelbarer Nähe der Tasche aufgefunden wurde, habe er nicht gesehen.
Binnen kurzer Zeit konnte auch das Mordopfer identifiziert werden: Helene Faber, genannt Ilona, 21 Jahre alt, Tochter eines hohen Ministerialbeamten, die älteste von drei Schwestern, von Beruf Stenotypistin, die auch eine Mannequinschule besuchte. Sie wurde als ruhiges, zurückhaltendes Mädchen beschrieben.
Die letzten Stunden der Ermordeten konnten leicht rekonstruiert werden. Um etwa 18.15 Uhr hat Ilona die elterliche Wohnung in der Argentinierstrasse verlassen, um ihren Angaben nach in die Mannequinschule zu gehen, tatsächlich wollte sie sich aber den Elvis-Presley-Film "Gold aus heißer Kehle", der im Schwarzenberg-Kino lief, ansehen. Die Vorstellung begann um 20.00 Uhr und endete um 21.45 Uhr. Ilona wurde von einigen Kinobesuchern gesehen und soll das Kino in Eile verlassen haben. Die kriminalistisch wichtige Frage, was Ilona bei sich getragen hat, konnte von der Familie exakt beantwortet werden: Den bereits in unmittelbarer Nähe der Leiche entdeckten Schirm, eine Armbanduhr, Lederhandschuhe, eine dunkle Plastikhandtasche mit folgendem Inhalt: Schlüsselbund, Lippenstift, Drehbleistift, Taschentuch, eine Geldbörse mit einem Zehnschillingstück und einen Betrag von 9,60 Schilling in unbekannten Münzeinheiten, ein Paar große, goldene Ohrgehänge, die in diesem Mordfall noch eine Rolle spielen sollten.
Aus den Leichenerscheinungen (Totenflecken, Totenstarre, usw.) schlossen die Gerichtsmediziner, dass der Tod ungefähr zehn bis zwölf Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten sein musste, was bedeutet, dass Ilona in der Zeit zwischen 22.00 und 24.00 Uhr ermordet worden war.
Die Obduktion ergab Blutunterlaufungen in der Scheitel- und linken Schläfengegend, sowie in der Rückenmuskulatur, Bissverletzungen am rechten Ohr, am Hals, an der rechten Schulter, Kratz- und Druckspuren am Hals und einen Bruch des Zungenbeins, Folge eines starken Würgeaktes, der eine rasch einsetzende Bewusstlosigkeit bewirkt haben dürfte. Zerreißungen am Genitale und Verunreinigung desselben mit Erde sprachen eine eindeutige Sprache. Der Täter hat an seinem Opfer zwar keinen Geschlechtsverkehr vorgenommen, aber es auf andere Weise missbraucht. Das Gutachten des Gerichtsmediziners Walter Schwarzacher kam zu dem Schluss, dass Ilona durch Einatmen erdiger Massen eines gewaltsamen Erstickungstodes gestorben sei.
Es gab zwar Anhaltspunkte für die Täterschaft des Johann Gassner, doch fand man an seinen Händen und Kleidern weder Blutnoch Erdspuren. Die Verdachtsmomente reichten für eine Untersuchungshaft nicht aus, sodass Johann Gassner einen Tag nach seiner Festnahme enthaftet werden musste.
Die meisten Gegenstände aus dem Besitz der Toten fehlten. Der vom Sicherheitsbüro erlassene Aufruf hatte Erfolg: Es meldete sich ein Juwelierlehrling, der den Beamten ein goldenes Ohrgehänge übergab, das er am 15. April nachmittags am Naschmarkt unter Gemüseabfällen gefunden hatte - ganz in der Nähe einer öffentlichen Toilette, in der sich Gassner nach seinen Angaben in der Mordnacht aufgehalten hatte. Der wurde daraufhin neuerdings verhaftet und verhört. In den nächsten Tagen fand man weitere Gegenstände: In der Schwindgasse einen Handschuh Ilonas und in der Schäffergasse ihre Strümpfe. Bei der zweiten Verhaftung Gassners fand die Polizei eine Zigarettenschachtel, auf deren Rückseite stand:: "Täter gesehen, Naschmarkt, 2. Klosett, Montag zwischen 3/4 1 - 1/2 2". Wollte Gassner mit dieser Notiz von sich ablenken, oder war er zwar nicht der Mörder, kannte ihn aber vielleicht? Von besonderem Interesse sind die Ausgaben, die der Verdächtige in der Mordnacht getätigt hat. Beim Würstelstand im Resselpark hat er sich um 6,60 Schilling eine Burenwurst gekauft, in der Gulaschhütte "Heumühle" ein Bier und fünf Zigaretten. Die Zeche machte ebenfalls 6,60 aus, zusammen 13, 20 Schilling - fast so viel, wie Ilona Faber bei sich gehabt hatte, als sie ermordet wurde!
Mit diesem Umstand konfrontiert, sagte Gassner, dass er sich das Geld erbettelt hätte. Die Polizei erließ Aufrufe, doch meldete sich niemand, der zur fraglichen Zeit in der Naschmarkt-Gegend einem Bettler Münzen geschenkt hat. Der Verdacht gegen Gassner verdichtete sich noch mehr, als man feststellte, dass dieser ein äußerst mangelhaftes Gebiss mit charakteristischen Unregelmäßigkeiten hatte. Man ließ vom Ober- und Unterkiefer ein Modell anfertigen und verglich es mit den Bissspuren an der Brust der Ermordeten. Die gerichtsmedizinischen Gutachter kamen zu dem Schluss, "dass zwischen den Zahnmodellen und den Veränderungen an den Brüsten der Leiche der Helene Faber auffallende Kongruenzen bestehen..."
Diese rätselhafte Bluttat löste heftige Emotionen aus. Der Handelsminister der damaligen großen Koalition, Fritz Bock, der Ressortchef des Vaters der Ermordeten, sprach sich vehement für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus. Die Gegenposition nahm Wiens damaliger Starverteidiger Michael Stern ein, der auf die Gefahr des Justizirrtums verwies und meinte: "Es gibt ein Bibelwort: Was der Herr gegeben hat, darf nur der Herr nehmen."
Vierzehn Monate nach Auffindung der Ermordeten musste sich Johann Gassner im Großen Schwurgerichtssaal des Straflandesgerichts verantworten - der größte Indizienprozess der Nachkriegszeit hatte begonnen. Das Interesse am Prozess war enorm, inund ausländische Reporter stürmten den Großen Saal mit seiner bekannt schlechten Akustik, und schon in den Morgenstunden hatten sich viele Neugierige vor dem Gerichtstor versammelt. Die Anklage wurde von Staatsanwalt Otto Hörmann vertreten, der Gassner Raubmord und Schändung vorwarf; außerdem war er wegen verschiedener Vermögensdelikte angeklagt. Die Geschworenenbank bestand aus vier Frauen und vier Männern. 95 Zeugen und fünf Sachverständige wurden geladen, darunter der Zahn- und Kieferexperte Hermann Zinner, dessen Gutachten prozessentscheidend werden sollte.
Der Indizienprozess
Die Hauptverhandlung dauerte zehn Tage, dreimal wurde ein Lokalaugenschein durchgeführt, einmal sogar um Mitternacht, was für die Gründlichkeit des Gerichts spricht. Der Angeklagte gestand nur die im Vergleich zu den Hauptfakten geringfügigen Vermögensdelikte, sonst bekannte er sich nicht schuldig. In seinem Gutachten führte der Gerichtsmediziner Werner Boltz aus, dass die in der Aktentasche des Angeklagten befindlichen Werkzeuge, weiters eine blecherne Zigarettendose und ein Taschenmesser auf Blutspuren untersucht worden seien, jedoch ohne Ergebnis.
Ebensowenig konnte eine Kongruenz zwischen den Abmessungen und Formen der Werkzeuge und den Verletzungen des Opfers gefunden werden. Beim Lokalaugenschein stellte sich heraus, dass vom Standort Gassners aus jene Stelle, wo der Kopf aus der Erde ragte, nicht unbedingt zu sehen war. Jetzt blieb nur noch das Gutachten über die Bisswunden als Trumpfkarte für den Staatsanwalt. Auf die Frage an Professor Zinner, ob er den zwingenden Schluss ziehen könne, dass die bei llona Faber festgestellten Bisswunden nur von den Zähnen des Angeklagten zugefügt worden sein können, antwortete dieser: "Nein, das kann ich nicht".
Das Schlussplädoyer des Staatsanwalts fiel sehr emotionell und theatralisch aus: "Ilona Faber steht rein und makellos vor uns. Sie war nicht angekränkelt von der Hybris unserer Zeit. Kein Schatten darf auf ihr Andenken fallen.Geben Sie, meine Geschworenen, der Allgemeinheit das Gefühl der Sicherheit und Ruhe zurück, indem Sie diesen reißenden Wolf unschädlich machen!" Bezüglich Raubmord und Schändung fiel das Verdikt der Geschworenen mit dem knappest möglichen Ergebnis aus: 4 Ja- und 4 Neinstimmen. Das bedeutete Freispruch. Wegen der Vermögensdelikte erhielt Gassner drei Jahre schweren Kerkers mit anschließender Einweisung in ein Arbeitshaus. Das Urteil wurde rechtskräftig.
Aus kriminalistischem Interesse konstituierte sich daraufhin ein privates Dreierteam. das versuchen wollte, den Täter auszuforschen und somit der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Tatsächlich wurde in einer Holzkiste auf dem Dachboden eines Hauses in der Wehrgasse ein Damenhandschuh, der als Eigentum von Ilona Faber identifiziert werden konnte, gefunden. Auch der restliche Inhalt der Kiste war äußerst suspekt. Man fand eine blutige Damenunterhose, zerrissene Mädchenkrawatten, zerfetzte Blusen und ein Mädchenhalstuch. Diese makabren Gegenstände waren im Besitz eines Bauingenieurs, der im Zuge des Nebelmordes von Maria Enzersdorf (Februar 1961) verspätet ins Fadenkreuz der Fahndung geraten, jedoch bereits im Jahre 1962 verstorben war. Ob er Selbstmord begangen hat, oder eines natürlichen Todes gestorben ist, konnte nicht geklärt werden. Es ist jedenfalls denkbar, dass er ein Geheimnis mit ins Grab genommen hat.
Der Vollständigkeit halber sei noch ein Kuriosum überliefert. Im Jahre 2002 - also 44 Jahre nach dem Mord - trat in einer FernsehSendung eine Frau auf, die behauptete, ihr mittlerweile verstorhener Gatte habe ihr vor Jahren gestanden, Ilona Faber nach einem Streit getötet und verscharrt zu haben. Unter Drohungen musste sie ihm versprechen, niemandem etwas davon zu erzählen. Die Nachforschungen der Polizei führten allerdings zu keinen neuen Erkenntnissen. Somit ging ein besonders mysteriöser Fall in die Kriminalgeschichte ein.
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