Diese Woche besuchte ich – leider nur für sehr kurze Zeit – endlich die Stadt Kolkata (Kalkutta) und ihren Straßenbahnbetrieb.
Nachdem in den Jahren 2019 und 2020 leider elf Linien unter verschiedenen Vorwänden "vorübergehend" eingestellt wurden, werden momentan nur mehr drei Linien betrieben, und zwar die Linien 5 (Esplanade – Shyambazar), 24/29 (Tollygunge – Ballygunge) und 25 (Esplanade – Gariahat), wobei der 5er erst Mitte Feber wieder in Betrieb genommen wurde.
Der Betrieb ist einerseits seit einigen Jahren akut einstellungsgefährdet, andererseits gibt es gerade seit letzter Woche wieder Hoffnungsschimmer: Die westbengalische Regierung hat öffentlich angekündigt, sieben der eingestellten Linien bis 2025 wieder in Betrieb zu nehmen, wobei bereits sogar Ausschreibungen für die Sanierung bzw. Wiederherstellung einiger Gleisanlagen existieren. Inwieweit solche Absichtsbekundungen mehr wert sind, als das Papier, auf dem sie geschrieben sind, wagt momentan niemand beurteilen zu wollen...
Der derzeitige Betrieb läuft wegen Finanzierungs- und akuten Personalmangels in sehr bescheidenem Ausmaß ab. Die Linien 25 und 24/29 werden untertags tendenziell mit Intervallen von 20-25 min betrieben, wobei dies auch unregelmäßiger werden kann und während der Mittagspause des Personals kaum ein Fahrbetrieb stattfindet.
Am 5er schaut es noch trister aus: Dieser fährt täglich nur 2 bis 4 Mal, in den allermeisten Fällen nur 2 Mal. Die zwei einigermaßen "fixen" Fahrten finden in der Früh (gegen 06:00–07:00 ab Esplanade) und am Nachmittag (ca. 13:45 ab Esplanade, ca. 15:00-15:30 ab Shyambazar) statt. Betrieblich handelt es sich dabei um Wägen der Linie 25, die in der Endstelle Esplanade einen Linienwechsel vollziehen, eine Tour nach Shyambazar und retour fahren und dann wieder auf den 25er wechseln. Momentan laufen Schulungen von Weichenstell- und sonstigem internen betrieblichen Personal zu Fahrern. Stehen nach der Beendigung wieder mehr Fahrer zur Verfügung, soll auch auf der Linie 5 wieder ein einigermaßen tragbarer Takt eingeführt werden.
Fahrpläne gibt es generell keine. Fahrzeiten einzuhalten wäre teilweise auch völlig utopisch, da die tatsächliche Fahrzeit in erster Linie von der momentanen Dichte des übrigen Verkehrs abhängt. Teilweise liegen die Gleise in Durchzugsstraßen, die in gewissen Zeiträumen Einbahnstraßen mit zähem Verkehr sind, zumeist bis 13:00 in die eine Richtung, ab 13:00 in die andere. Dementsprechend schwierig ist für die Straßenbahn das Vorankommen gegen die Einbahnrichtung.
Es gibt zwar theoretisch noch offizielle Haltestellen, in der Praxis kann jedoch überall entlang der Strecke ein- und ausgestiegen werden. Zusteigewillige halten den Zug per Handzeichen an, Aussteigewillige werden von den Schaffnern durch Augenschein erkannt. Viele Fahrer machen sich jedoch gar nicht die Mühe, den Zug für den Fahrgastwechsel vollständig zum Stillstand zu bringen, wenn es verkehrstechnisch nicht unbedingt erforderlich ist, auch, da sonst die entstehende Lücke im Verkehr zumeist unverzüglich gnadenlos von den übrigen Verkehrsteilnehmern aufgefüllt wird.
Schaffner gibt es pro Wagen zwei, je einer im A- und einer im B-Teil. Die Kommunikation von den Schaffnern zum Fahrer erfolgt mittels Dachglocke. Der Preis einer Einzelfahrt beträgt je nach Fahrtstrecke mindestens ₹6 und höchstens ₹7, also umgerechnet 0.07 bzw. 0.08 € und wird an Ort und Stelle vom Schaffner eingehoben.
Ich beginne meinen Bildbericht mit einem in Kalkutta leider nur allzu häufigen Anblick: Verlassene Straßenbahngleise. In diesem Fall Gleise der Linien 12 und 13 in der Acharya Prafulla Chandra Road bei der Kreuzung mit der Sibdas Badhuri Street. Sogar die Fahrleitung ist bereits entfernt...
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Nun meine erste, minutiös geplante Begegnung mit einem indischen Straßenbahnzug: Wagen 623 der Linie 5 (Nachmittagskurs) passiert die Kreuzung Hati Bagan (Elefantengarten).
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Die Schleife Shyambazar wurde 1903 eröffnet und beherbergt außer dem Schleifengleis auch ein paar Stockgleise, wo momentan ein paar recht devastierte Wägen des Betriebsbahnhofes Rajabazar hinterstellt sind. Durch die doch einigen Jahre, in denen die Schleife dank der letzten Einstellungswelle außer Betrieb war, wurde das Ausfahrtsgleis durch einen Fetzentandler in Beschlag genommen, der sich auch durch den wiederaufgenommenen Betrieb nicht stören lässt – die Ware wird einfach eine Minute vor Abfahrt des Zuges vom Gleis geräumt und anschließend gleich wieder zurückgestellt.
Hinter den Kleiderständern verbirgt sich wie auf einem Suchbild der auf die Abfahrt wartende Wagen 623:
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Während der Stehzeit nütze ich die Gelegenheit, um einen ersten genaueren Blick auf den Wagen zu werfen. Der Wachmann der Schleife gibt mir zu verstehen, dass er kein Fotografieren der auf den Stockgleisen abgestellten Wägen toleriert, also beschränke ich mich auf den Betriebswagen.
Die in Kalkutta übliche Wagenkonstruktion wirkt etwas absurd: Der A- und der B-Teil werden durch eine Art (sehr antik wirkendes) Jakobsdrehgestell ohne Durchgang verbunden.
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Hier der Innenraum des B-Teiles.
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Die Steuerelektrik stammt bei allen Wägen noch aus der britischen Kolonialzeit – auch bei diversen Modernisierungen und Neuaufbauten wurden diese Teile immer wieder von älteren Wägen wiederverwendet. Die meisten Wägen besitzen einen grobstufigen Nockenfahrschalter Type CBD2 der Firma GEC Traction Ltd. mit vier Serien-, vier Parallel- und sieben Bremsstufen. Letztere werden jedoch ausschließlich in Notfällen (de facto nie) verwendet, da als Betriebsbremse eine Westinghouse-Druckluftbremse dient.
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