Ach, Avignon. Eine Stadt, in die ich mich vor vielen Jahren auf den ersten Blick verliebt habe, damals noch ganz ohne Tram: Die mittelalterlichen Gassen, der Papstpalast, die Brücke – es ist eine Atmosphäre, die seinesgleichen sucht und in die schöne, friedliche Landschaft im Übergang der Provence eingebettet ist.
Avignon zählt knapp 100 000 Einwohner. Das ist deutlich mehr, als man denkt, vor allem wenn man sich hauptsächlich
intra-muros, also innerhalb der noch vollständig erhaltenen Stadtmauern aufhält. Durch die flächendeckende Verkehrsberuhigung (grundsätzlich Begegnungszone, viele Straßen mit Poller nur für Anrainer befahrbar, viele enge Gassen und ein paar Fußgängerzonen) ist die Stadt dort so, wie man sich Stadt wünscht: Viele Menschen auf der Straße und de facto kein Verkehrslärm zu hören. Und in der Nacht machen vor allem Menschen Geräusche (manchmal Fahrräder, machmal Mopeds) – und dann man merkt deutlich, dass trotz Massentourismus noch viele Menschen in der Innenstadt wohnen. In der touristenarmen Nebensaison – also derzeit, aber auch, wie ich vor etwas über einundhalb Monaten dort war – ist das Aufkommen auf der Straße abends deutlich geringer. Aber dennoch, wenn man weiß, wo sich die Bevölkerung abends trifft, findet man lebhafte Ecken bis spätabends.
Die Außenstadt hingegen ist nicht so kompakt. Während die Gebiete unmittelbar an der Stadt noch halbwegs städtisch wirken, geht es irgendwann in eine Mischung aus Plattenbauten und Straßenbauten, also in einem etwas dichteren Siedlungsteppich, über… Die Straßenbahn verbindet genau diese beiden Welten: Vom Bahnhof, der direkt an der Stadtmauer außen steht, geht es Richtung Südosten, wo die Linie bei einem Einkaufszentrum im Banlieu endet.
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Das Straßenbahnnetz in Avignon hätte zu den vor ca. 10 Jahren langsam aufkommenden kleinen Netzen gehören sollen. Mit knapp 200 000 Einwohnern in der Stadtregion Grand Avignon (deswegen wird die Tramway auch als
Tramway de Grand Avignon bezeichnet) liegt sie unter den »straßenbahntauglichen« Städten eher am unteren Rande. Während die Straßenbahn Valenciennes in der Hochzeit der neuen Straßenbahnnetze in Frankreich in den 2000er-Jahren noch gebaut und vor kurzem sogar ausgebaut wurde, war Avignon (genauso wie bei Aubagne) ein wenig zu spät dran: Eine Kommunalwahl kam dazwischen, die neugewählte Bürgermeisterin war gegen das Projekt, es wurde redimensioniert. Wäre es nicht schon in Bau gewesen, hätte man es wohl ganz abgedreht, wie in Artois-Gohelle.
Im Gegensatz zu den anderen »kleinen Netzen« Valenciennes, Aubagne und Artois-Gohelle ist und wäre die Straßenbahn in Avignon keine Dorf- oder Überlandbahn geworden. Dennoch stehen ähnliche Ideen hinter der Planung: Kleinere Fahrzeuge (Dreiteiler »Citadis Compact« mit 24 Meter Länge mit 41 Sitz- und 101 Stehplätzen), pragmatische statt dogmatische Planung (Mischverkehr mit dem MIV oder anderswo wie in Valenciennes eingleisige Abschnitte) sowie ein kleines Grundnetz mit zwei Linien, um die Grundinfrastruktur finanzieren zu können. Von diesen beiden Linien, die zusammen ca. 14 km lang hätten sein sollen, blieb zunächst im Endeffekt die Linie T1 (der Anfang aller Dinge…) mit etwas mehr als 5 Kilometer übrig. Sie wurde (wie oben zu lesen) im Herbst 2019 eröffnet.
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Man merkt den Einfluss des Südens: Eine gewisse Wurschtigkeit macht sich hier breit, die zu sehenden Tafeln kündigen die Probefahrten für die Tramway an. Aber gut, es schadet nicht, die Autofahrer an die (noch) neue "Gefahr" weiterhin aufmerksam zu machen.
Während man in Aubagne versucht die hohen Kosten der Grundinfrastruktur (Depot,…) durch eine Tram-train-Linie halbwegs zu retten, hat man sich in Avignon bereits vor der Eröffnung wieder besinnt: Eine zweite Linie (etwa 3 km) kommt 2023, die T1 wird gleichzeitig um eine Station umgelegt (intra-muros). Auch langfristige Ausbauprojekte stehen wieder im Raum. Die ursprüngliche Gestaltung der Fahrzeuge, gotische Spitzen, wurde zugunsten von berühmten Töchtern und Söhne der Stadt aufgegeben. Ich finde es sehr schade, aber das Projekt musste wohl einfach aufgrund des politischen Machtwechsels wohl einfach anders sein. Die ursprüngliche, von der Bevölkerung gewählte Variante, hätte so ausgeschaut (abermals bei der Stadtmauer am Bahnhof):
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Die stilisierten gotischen Formen, die man auf den Fotos vom Mock-Up leider nicht so gut sieht, hätten sich gut gemacht. Es gab damals mehrere Farben zur Wahl, mein Favorit wäre orange gewesen:
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Im Direktvergleich sieht man die Einfallslosigkeit des neuen Designs: Die äußerliche, recht nüchterne Gestaltung soll wohl auch zeigen, dass die neue Stadtregierung sparsamer ist. Schließlich war einer der Hauptkritikpunkte die hohen Kosten.
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An dieser Stelle soll zukünftig die Linie T1 um eine Station in die Stadt hinein verlängert werden.
Aktuell endet die Linie T1 eine Station westwärts vom Bahnhof, bei der Universität, ebenso direkt an der Stadtmauer.
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Die kurze Strecke entlang der Stadtmauer ermöglicht mehrere nette Fotomöglichkeiten:
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Zukünftig soll die Linie T2 hier nicht abbiegen, sondern die Stadtmauer entlang den östlichen Rand der Innenstadt erschließen.
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Innen sind die Fahrzeuge zurückhaltend angenehm gestaltet. Die Doppeltüren hinter den Führerständen sind eine willkommene Verbesserung. Sonst zeichnen sich die Citadis Compact durch Fahrwerke mit durchgehenden Achsen und Primärfederung aus (von Alstom Ixège genannt). Diese sollten wohl auch bei höheren Geschwindigkeiten eine Verbesserung der Laufruhe bringen, wo die bisherigen Citadis eher ungut auffielen – auf einem Netz wie Avignon kann man das aber nicht wirklich beurteilen. Erstaunlich und auch in Avignon bemerkbar auf jeden Fall die Beschleunigung dieser kurzen Garnituren, die kurzen Citadis Compact haben genauso wie die ~35-Meter-Fahrzeuge mit 5 Modulen zwei angetriebene Fahrwerke.
Abgesehen davon ermöglicht die neue Konstruktion weniger Sitze auf Podesten: Waren in den Fahrwerksmodulen bisher alle Sitze auf Podeste, beschränkt es sich bei der neuen Citadis-Generation (auch als X05 bezeichnet) auf die Vierergruppe in der Mitte.
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Wie erwähnt, wurde jede Garnitur nach einer berühmten Persönlichkeit benannt, dessen Lebenslauf im Fahrzeug hinter der Fahrerrückwand zu lesen ist.
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Abgesehen davon gibt es im Inneren auch unangenehme Überraschungen: Das Türpiepsen nach Wiener Art (also auch bei "normalem" Schließen ohne zentrales Schließen) hat auch hier Einzug gehalten
Dennoch: Gestaltungstechnisch ist es unter dem Strich ein pragmatisches, französisches Standardnetz. Rasengleis, wo es gut geht, aber nicht um jeden Preis. Zurückhaltende Gestaltung. Pragmatische statt dogmatische Lösungen. Und offen für die Zukunft: Bahnsteigverlängerungen sind meist mitgedacht. Kommunalpolitischen Verwerfungen, die dem Projekt hier einen Dämpfer und ein langweiliges Design gegeben haben, sind wohl unvermeidbar, umso erfreulicher, dass man halbwegs zur Vernunft fand.
2023 soll es dann mit der Linie T2 weitergehen. Hoffen wir es, schließlich könnte die aktuelle Situation auch darauf Auswirkungen haben.