Wahnsinn, was man vor/im Krieg da tramwaybautechnisch schon drauf hatte!
In Deutschland/Österreich bewegte man sich mehrheitlich noch in knarzenden Holzkisten fort, die technisch größtenteils irgendwo vor dem ersten Weltkrieg stehen geblieben waren, während man in Italien schon mit Design- und Ausstattungsmerkmalen aufwartete, welche bei uns erst 20 Jahre später langsam Einzug fanden...
Die italienische Fahrzeugindustrie war besonders in den 1930ern und 1940ern besonders innovativ. Die technischen Neuerungen beschränkten sich keineswegs nur auf Design- und Ausstattungsmerkmale. Bereits 1938, also etwas mehr als ein Jahrzehnt nach dem Wiener N bzw M wurde in Rom der erste Gelenktriebwagen im modernen Sinn entwicklet, welcher schliesslich gut ein halbes Jahrhundert lang den Straßenbahnbau in Europa kennzeichnete.
Das von Mario Urbinati, dem damaligen technischen Direktor der Straßenbahn in Rom entwickelte Drehgestell mit Gelenkfunktion für die darauf lagernden beiden Wagenkästen war zunächst ein Patent von Stanga in Padua und wurde später auch von Düwag angewandt (ebenso von Tatra, soweit mir bekannt). Nach Innsbruck kamen die Gelenktriebwagen nach dem Prinzip Urbinati jedoch erst viel später, nämlich als Lizenzbauten von Düwag in den 1960ern (?).
Die Originalwagen in Rom wurden in 12 Stück produziert und waren bis 1980 in Betrieb. Drei Stück sind erhalten geblieben, einer in Rom im Museum bei Piramide (meine Fotos unten), einer im Museum in Colonna bei Rom und einer in Turin, der dort betriebsfähig aufgearbeitet werden soll. Die ab 1946 gebaute Nachfolgeserie ist zum Teil bis heute in Rom in Betrieb. Die Steuerung des Antriebs der ersten Serie efolgte übrigens über ein Fußpedal.
Technische Beschreibung der Giostra Urbinati (auf Italienisch):
Link1 Link2Eine weitere technischen Neuerung stellten damals die ersten
Niederflurfahrzeuge dar, welche 1948 ebenfalls von Rom ihren Ausgang nahmen. Anders als bei den Gelenktriebwagen war ihre Konstruktion jedoch noch nicht ausgereift, so dass nur zwei Prototypen gefertigt wurden, die nach ein paar Jahren nach Mailand verkauft und dort 1966 verschrottet wurden. Die Wagen waren wegen ihrer kleinen Raddurchmesser (hinten achslose Radaufhängung) entgleisungsfreudig.
In den 1930ern waren Vierachser, Leichbau-Stahlkarosserie, Fahrgastfluss und mechanischer Türantrieb im Straßenbahnbau in Italien längst Standard. Der Trend zu Gelenktriebwagen setzte jedoch bereits früher ein und wurde durch die Notwendigkeit, Personalkosten zu sparen gefördert. Die frühen Gelenktriebwagen waren hauptsächlich Umbauten mit fix verbundenen Trieb- und Beiwagen, die einen Blasebalg-Übergang hatten, also ähnlich der Type D in Wien.
Der Triebwagen 60 aus Innsbruck dürfte jedoch eher dem ebenfalls in Italien sehr verbreitenten PCC-Konzept entstammen, welches bekanntlich aus den USA stammt. Er wurde direkt in den Straßenbahnwerkstätten in Genua entwickelt und danach bei Breda in Mailand in Serie gebaut. Baugleiche Wagen gingen nach Belgrad. Innsbruck hatte 9 Wagen bestellt, jedoch wurde wegen des Krieges nur einer ausgeliefert (siehe
https://it.wikipedia.org/wiki/Tram_UITE_serie_900).
Gute Frage! Ich stelle mir vor, dass man mit dem Maximum-Drehgestell weiter experimentiert und so nach und nach auch herkömmliche Drehgestell-Vierachser herausbekommen hätte (allerdings im Gegensatz zum PCC wohl mit normalem Fahrschalter und Einrichtungen für Beiwagenbetrieb). Möglicherweise hätte sich als Standardform dann ein Vierachser-Dreiwagenzug etabliert, der von der Kapazität her einer modernen DÜWAG-Garnitur ebenbürtig gewesen wäre. Vielleicht wäre also der klassische Gelenkwagen, wie wir ihn alle kennen und schätzen, nie entstanden.
Wie erwähnt, war das Gelenkwagenkonzept der Notwendigkeit geschuldet, die Personalkosten zu senken, weil nur mehr ein Schaffner pro Wagen notwendig war.
Bilder:
1. Gelenktriebwagen Rom 1938, serie 400
2. Niederflurtriebwagen Rom 1948, genannt "bassotte" = Dackel.
3. und 4. Gelenktriebwagen 404 im Museum Piramide in Rom, 2011.