Ausgelöst hatte die Debatte der frühere Salzburger ÖVP-Landeshauptmann Franz Schausberger, der im „Österreichischen Jahrbuch für Politik 2012“ eine Reihe von antisemitischen Zitaten Renners ins Treffen führte – etwa die Aufforderung an die Regierung 1920, „die Judenfrage zu klären“.
Der Vollständigkeit halber sollte erwähnt werden, dass die Debatte von einem
Kommentar des Historikers Kurt Bauer über den Antisemitismus des christlichsozialen Politikers Leopold Kunschak ausgelöst wurde. Einen Tag später veröffentlichte "Der Standard" daraufhin eine
Reaktion des ehemaligen Salzburger Landeshauptmanns Franz Schausberger, in welcher er, der ehemalige ÖVP-Politiker, sich über den "sehr undifferenzierten (parteipolitischen) Anwurf" Bauers "gegen die ÖVP" beklagte. Der Text sollte, wie es zu Beginn heißt, eine "Replik auf Kurt Bauers Vorwurf an die ÖVP, sich den düsteren Facetten ihrer eigenen Geschichte nicht zu stellen", darstellen.
"Düstere Facetten" gäbe es nun zuhauf in der Historie der Volkspartei bzw. ihrer Vorgängerin: der Christlichsozialen Partei. Nicht nur den Antisemitismus, sondern auch ihre "Republikfeindlichkeit" (die Karlheinz Kopf bei Karl Renner auszumachen glaubt), welche letztlich den Weg in eine etwas mehr als vierjährige "christlich-autoritäre" Diktatur wies. Die Sitzungsprotokolle des Parlaments, auf die sich Schausberger stützt, sind hierbei durchaus aufschlussreich. Bemerkenswert finde ich nicht zuletzt die letzte
Sitzung des Nationalrats vom 30. April 1934, im Zuge derer die neue "ständische" Verfassung verabschiedet wurde: zum einen natürlich eine Farce, zum anderen aber auch ein wertvolles Stück Zeitgeschichte. Hermann Foppa, einer der zwei anwesenden und sich auch zu Wort meldenden großdeutschen, bereits in Richtung (verbotener) NSDAP abgleitenden Abgeordneten, war etwa später Taufpate von Jörg Haider. Aber das nur nebenbei.
Stellte sich Franz Schausberger nun der dunklen Vergangenheit seiner Partei? Nein, es folgte ein großes "Ja, aber", eigentlich ein kleines "Ja" und ein großes "Aber ihr habt doch auch".
Wie vorher angesprochen, nutzte er dafür die Sitzungsprotokolle des Parlaments als Quelle. Dort sind die Reden der Abgeordneten in ihrer vollen Länge samt Zwischenrufen u.dgl. wiedergegeben.
Der Schausberger ist zwar ein Hiasl, weil er die Zitate wirklich aus dem Zusammenhang gerissen hat (da er Geschichtswissenschaftler ist, darf man sich fragen, ob ihm das einfach so passiert ist - dann wäre er jedenfalls als Wissenschaftler fragwürdig, um es mal vorsichtig auszudrücken), [...]
Es ist nun vorauszusetzen, dass Schausberger fähig ist, sinnerfassend zu lesen und ihm die Zusammenhänge daher klar waren, in die Karl Renners Zitate gebettet waren. Als Erwiderung auf Franz Schausberger veröffentlichte vorerst Norbert Leser (SPÖ) einen
reichlich missglückten Text: "Wenn Renner im Zusammenhang mit der Genfer Sanierung 1922 und dem damit verbundenen Völkerbunddiktat von einer "jüdischen Finanzmacht" sprach, so bediente er damit keine antisemitischen Klischees, sondern stellte nur eine Tatsache fest."
Es bedurfte erst eines Ludwig Dvorak, im Gegensatz zu Kurt Bauer wirklich in den Untiefen der (SPÖ-)Parteipolitik unterwegs, welcher Schausbergers geschichtswissenschaftliche "Methodik" als
höchst zweifelhafte Vorgehensweise entlarvte, da dieser nicht nur Zitate aus ihrem Zusammenhang gerissen, sondern ihre Aussage damit teilweise ins Gegenteil verkehrt hatte. Danach hörte "das wochenlange Hick-Hack der Rot- und Grünfaschisten" (Linie 41) schließlich unvermittelt auf.
Es ist einem Historiker unbenommen, von einem festen politischen Fundament aus zu forschen. Er sollte dabei nur redlich vorgehen. Es ist auch einem Klubobmann unbenommen, Forderungen aufzustellen (auch wenn sie nicht in seinen Kompetenzbereich fallen). Nur sollte er sich dabei nicht auf fragwürdige Forschungsergebnisse eines Parteifreunds und seine eigenen, anscheinend endenwollenden geschichtlichen Kenntnisse stützen. Als Renner 1938 seine unsägliche Befürwortung des Anschlusses kundtat, war die Republik längst Vergangenheit. Ein Portrait des Mannes, welcher für die Ausschaltung der parlamentarischen Demokratie verantwortlich zeichnete, hängt hingegen noch immer in einer von der ÖVP genutzten Örtlichkeit: nicht etwa in der Lichtenfelsgasse oder sonstwo, sondern, welche Ironie, im Parlament in den ÖVP-Klubräumlichkeiten.
Es gab in der Christlichsozialen Partei übrigens, das zum Abschluss, tatsächlich einige wenige Stimmen, die dem Kurs der Parteimehrheit Richtung Diktatur nicht gefolgt sind. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang beispielsweise der Christlichsoziale Josef Schlegel, der im Februar 1934 als Demokrat und Gegner der Heimwehren von seinem Amt als Landeshauptmann von Oberösterreich zurücktrat. Im letzten Jahr wurde in Linz immerhin eine wenige hundert Meter lange Sackgasse nach ihm benannt. Für Wien fallen mir allerdings keine Namen aus dem Umfeld der Christlichsozialen der Zwischenkriegszeit ein, die sich für eine Straßenbenennung anbieten würden. Angesichts ihrer grenzwertigen Fundamentalopposition im Wiener Gemeinderat und der schon früh diktaturfreundlichen christlichsozialen "Wiener Richtung" verwundert das aber nicht.
Wie auch immer. Für die ÖVP sollte jedenfalls gelten: erst (anständig!) forschen, die eigene Vergangenheit über bloße Lippenbekenntnisse hinaus aufarbeiten, dann fordern.