Denn dem Wiener Fahrgast ist es wesentlich wichtiger, dass er einen Sitzplatz hat, als dass er bei ein paar Stationen im Netz auch auf der linken Seite aussteigen kann.
Ich habe heute morgen mal nachgezählt: auf dem U2-Bahnsteig in Stadlau gibt es ganze acht Sitzplätze. Selbst wenn ich ein Sitzplatzpaar übersehen habe, wirkt es nicht so, als würden sich die Wiener Linien ansonsten um die Sitzplatzbedürfnisse von Fahrgästen kümmern. Aber als Vorwand ist es dann wieder gut genug.
Gibt es eigentlich irgendwelche Untersuchungen, die nachweisen, dass der Einsatz von Zweirichtungsfahrzeugen Fahrgäste kostet?
Aber egal. Nur wegen den paar Stellen im Netz jetzt ZR-Fahrzeuge anzuschaffen und dafür um etliches mehr zu zahlen, dass halte ich ich als rausgeschmissenes Geld.
Niemand spricht von einer kompletten Umstellung des Wagenparks. In einem 200 km langen Netz kann es eben als Folge verschiedener Anforderungen verschiedene Fahrzeugtypen geben. Auf dem 33er fahren doch auch andere Züge als auf dem 6er. Aber ein gewisser Anteil an Zweirichtungsbahnen hat Sinn: er erlaubt bei Neubaustrecken eine größere Flexibilität bei Endhaltestellen und der Anlage von Bahnsteigen, und bei längerfristigen Baustellen durch Einbau von Bauweichen eine Heranführung der Straßenbahn bis unmittelbar an die Baustelle. Das wäre z.B. bei der Erneuerung der Hütteldorfer Straße oder beim Umbau des Johann-Nepomuk-Berger-Platzes vor ein, zwei Jahren sehr sinnvoll gewesen. Und in den übrigen Zeiten fahren die Züge dann eben im ganz normalen Linienbetrieb auf Einrichtungslinien. Wie gesagt: der Nachweis, dass das Fahrgäste kostet, steht aus.
Und wenn dann erstmal eine Linie auf Zweirichtungsbahnen umgestellt ist, kann das durchaus als Dominoeffekt wirken. Nachdem es in Berlin z.B. ein paar Jahre lang ausschließlich Einrichtungsbetrieb gab, wurde die damalige Linie 20 (heute M10) auf Zweirichtungsbahnen umgestellt, um sie direkt zum U-Bahnhof Warschauer Straße verlängern zu können. Nachdem nun sowieso Zweirichtungsbahnen eingesetzt wurden, wurden im Laufe der Zeit mehrere Haltestellen auf Linksbetrieb umgestellt - was in mindestens zwei Fällen auch durchaus im Sinne der Fahrgäste war, weil schmale Außenbahnsteige durch großzügige Bahnsteige auf der Mittelpromenade ersetzt wurden (und nebenbei auch am Frankfurter Tor der Umstieg zur U5 deutlich verbessert wurde). Nur durch die Zweirichtungsbahnen konnte die Verbindung von der Eberswalder Straße zum Nordbahnhof schon Jahre vor der Verlängerung zum Hbf in Betrieb gehen, und die nächste Verlängerung zur Turmstraße hat auch keine Wendeschleife, dafür aber z.T. Mittelbahnsteige.
In den letzten 20 Jahren seit der Umstellung der damaligen 20 ist man auf den Geschmack gekommen, hat mehrere Stumpfendstellen, Kehranlagen und Haltestellen mit linksseitigem Ausstieg eingerichtet und setzt z.T. auf Linien, die von der Infrastruktur her im Regelbetrieb mit Einrichtungsbahnen bedient werden können, bewusst Zweirichtungszüge ein, um im Falle einer Störung die vorhandenen Kehranlagen nutzen können. Und sie haben auch sonst gute Dienst auf "Sonst-Einrichtungslinien" erwiesen: die M8 konnte so z.B. während der Bauarbeiten zur Verlängerung Richtung Hauptbahnhof bis an die Baustelle heranfahren und so ihre Funktion als Querverbindung behalten - sonst hätte sie in diesem Abschnitt mehrere Jahre auf Busse umgestellt werden müssen. In den Nullerjahren ist am S-Bahnhof Karlshorst ein Wasserrohr gebrochen und hat die Stelle für Bahnen und den Pkw-Verkehr für Wochen unpassierbar gemacht. Innerhalb weniger Tage hat die BVG nördlich davon einen Gleiswechsel eingerichtet, so dass statt im Verkehrschaos feststeckender Busse die Bim bis zur Havarie heranfahren konnte und man nur ein paar hundert Meter zur den weiterführenden Bahnen gehen musste. Mit Einrichtungsbahnen hätten Fahrgäste das Chaos eben monatelang hinnehmen müssen (toll, dass sie dann theoretisch ein paar Sitzplätze mehr gehabt hätten).
Lange Rede, kurzer Sinn: anfangs beschafft man Zweirichtungszüge erst für wenige Stellen (in Berlin war es anfangs genau eine). Aber sind sie erstmal da, wird man früher oder später ihre Vorteile auch nutzen, naheliegenderweise nicht willkürlich im Netz verteilt, sondern konzentriert dort, wo sie sowieso eingesetzt werden (wobei natürlich auch Ablenkungen und einrückende Fahrten von "Einrichtungslinien" berücksichtigt werden müssen, das ist in Berlin leider zuweilen schiefgelaufen).