Ganz abgesehen davon, dass es in Wien längst ein "1er"-Ticket gibt. Nachdem vom "2er" und "3er" z.B. Langstreckenpendler massiv profitieren: warum sollte Wien da ein gesteigertes Interesse dran haben?
Weil es natürlich auch etwas davon hat, wenn nach Wien Langstreckenpendelnde den Zug statt das Auto nehmen.
Meiner Meinung nach ist ein kapitaler Denkfehler schon viel früher passiert:
Man hat ja Wohn/Schlafstädte und Industriezonen voreinander deutlich getrennt und damit Pendlerverkehr generiert.
Aus damaliger Sicht war es ja kein kapitaler Fehler. Man sollte sich in Erinnerung rufen, in welcher historischen Situation die funktionelle Trennung der Stadt entstanden ist: zu Hochzeiten der Industrialisierung. Seinerzeit gab es Millionen Menschen, die unter erbärmlichen Zuständen lebten - mit zu vielen Personen in zu kleinen Wohnungen, teils mit geteilten Betten (Tag- und Nachtschläfer), ohne Tageslicht, mit geteilten sanitären Einrichtungen, sogar
Trockenwohnen gab es, und das Ganze eben oft so industrienah, dass man auch noch die Emissionen besonders stark abbekam. Nicht umsonst sind in vielen europäischen Städten die besonders feinen Viertel im Westen der Stadt - die dominierenden Westwinde sorgten nämlich dafür, dass diese von den Emissionen viel weniger betroffen waren als die östlichen Stadtteile und Vororte.
Vor diesem historischen Hintergrund sind dann Gegenbewegungen entstanden - genannt sei hier vor allem die
Gartenstadt von Ebenizer Howard oder dann die städtebauliche Moderne ab den 20er Jahren (
Charta von Athen). In der Nachkriegszeit erlebte diese Art von Städtebau ihren Höhepunkt - die Hoffnungen, die sich damit verbanden, sind ganz gut im britischen Werbefilm
"Charlie in the new town" ersichtlich. Ebenfalls um die vorletzte Jahrhundertwende entstanden auch erste Werkssiedlungen, die aber m.E. nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern auch eine Kontrolle der Arbeiterschaft als Ziel hatten (wenn selbst die eigene Wohnung vom Arbeitgeber abhängig ist, muckt man nicht auf).
Andererseits ist die Randwanderung der Industrie auch kein Phänomen, das erst mit der städtebaulichen Moderne entstanden ist. Sehr mustergültig kann man es an Berlin sehen, wo es mehrere Phasen der Randwanderung gab (es würde mich freuen, wenn jemand, der in der Wiener Industriegeschichte bewandert ist, einen Vergleich zieht). Die ersten Industriebetriebe sind im heutigen Bezirk Mitte entstanden, im Bereich zwischen Oranienburger Tor und
Schwartzkopffstraße. Noch im 19. Jahrhundert, spätestens im frühen 20. Jahrhundert, verließen sie die damalige Stadt - die Borsigwerke und die Stadtteile Siemens[sic!]stadt und Oberschöneweide sind Folgen davon. Und inzwischen siedeln sich ganz neue Betriebe wieder im Umland an, z.B. Tesla in Grünheide bei Erkner, auch wenn innerhalb Berlins (aber nicht innerhalb der Ringbahn) viele frühere Bahnflächen ebenfalls entwickelt werden. Insofern ist das nur die Fortsetzung einer Entwicklung, die vor weit über hundert Jahren ihren Ausgang genommen hat.
Was heißt das für heute (und damit zurück zum Thread-Thema)?
Zunächst einmal, dass man bei Arbeitsplätzen zwischen Industrie/Logistik und anderem Gewerbe unterscheiden sollte - denn natürlich verursacht die erste Gruppe durchaus Emissionen (neben Schadstoffen auch Lärm, und beides ja nicht nur auf den Betrieb selbst, sondern An- und Ablieferung bezogen). Insofern hat es durchaus Sinn, solches Gewerbe vom Wohnen zu trennen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass es planlos irgendwo entstehen sollte, erst recht nicht auf der grünen Wiese. Natürlich muss das Ziel trotzdem sein, Brachen erneut zu entwickeln, statt neues Land zu versiegeln, und wenn man richtig gut ist, Brachen, die bereits durch den ÖPNV erschlossen sind (am besten durch Schienenverkehrsmittel). Das heißt auch, dass man neue Industriegebiete so planen sollte, dass sie durch den ÖPNV gut erschlossen werden können (also möglichst kompakt, viele Personaleingänge entlang weniger Achsen etc.); das ganze auch vor dem Hintergrund, dass man diese Jobs kaum ins Home Office verlagern kann.
Anders sieht es bei Bürojobs aus. Hier hat es natürlich Sinn, sie über die ganze Stadt zu verteilen, um Wege zu verkürzen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass als Folge von, aber nach Corona, in peripheren Lagen Coworking-Spaces entstehen, als geteilte Büros, und auch Außenbüros größerer Unternehmen. Menschen, die nicht zu Hause arbeiten können oder wollen, aber auch nicht jeden Tag ins Büro fahren möchten, hätte so tageweise eine gute Alternative, die auch die Wege deutlich verkürzt und so - aus Sicht der Stadt - zu weniger Verkehr führen würde. ("Tageweise", weil ich den Abgesang aufs Büro auch für unwahrscheinlich halte - er unterschätzt nämlich völlig, dass der Mensch ein soziales Wesen ist/hat, und den Wegfall informell fließender, aber wichtiger Informationen.)
An sich halte ich die 15-Minuten-Stadt für eine gute Vision, auch wenn sie, wie jede Utopie, niemals vollständig Wirklichkeit wird - allein, weil einige ihre Jobs häufiger wechseln als die Wohnung, aber auch, weil sich in Partnerschaften nicht immer beide Seite aussuchen können, wo sie arbeiten. Aber wenn man es schafft, dass zumindest Kindergärten, Schulen, Nahversorgung und ein bedeutender Anteil der Arbeitsplätze innerhalb von 15 min per Rad oder zu Fuß erreichbar ist, ist viel erreicht.
So oder so, um endgültig den Bogen zum Thread-Thema zurückzubekommen, setzt es aber voraus, dass man Stadt- und Verkehrsplanung endlich zusammendenkt, und das auch bezirks- und landesgrenzenübergreifend. Und da sehe ich aktuell das größte Defizit, zumal ja schon allein bei der Verkehrsplanung eine übergeordnete, in Wegen denkende Planung, überhaupt nicht erfolgt, siehe z.T. schon oft vorgebrachte Beispiele: Stilllegung der S-Bahn-Station-Hausfeldstraße, keine Bushaltestelle für den 22A an der S-Bahn-Station Hirschstetten, an der Landstraße fehlende Stiege vom Zwischengeschoss U3/U4 zum O-Wagen, aber auch die Fußwege, die vielerorts zum ÖPNV führen sind (es mag manche überraschen, aber die meisten Wienerinnen und Wiener wohnen nicht in U-Bahn-Stationen, der Umweltverbund sollte von Tür zu Tür eine attraktive Alternative zum Auto sein).