Autor Thema: Stadtarchäologie  (Gelesen 26483 mal)

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martin8721

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Stadtarchäologie
« am: 28. April 2014, 19:18:53 »
Nachdem ich nicht weiß, in welchen Thread ich das geben soll, eröffne ich hiermit ein neues Thema, zu dem vielleicht der eine oder andere auch was beitragen kann.  :D

Als ich heute in Meidling bei der Siebertgasse 26 vorbeikam, staunte ich nicht schlecht, als ich diese alte Aufschrift an einer Hauswand entdeckte, die durch Abbrucharbeiten am Nebenhaus zum Vorschein kam.
"Vorhänge Appretur" (was immer das auch ist) und dazu der Name "Wilhelmine Matzer".
Auch das dahinter liegende Haus ist nicht uninteressant.  :o
Die Schrift war über Jahrzehnte hinweg hinter einer Autowerkstatt verborgen, welche offenbar kürzlich abgetragen wurde. Im Kulturgutkataster auf wien.gv.at konnte ich von dieser Werkstatt noch ein Bild finden. Laut dortigen Informationen wurde sie nach 1945 errichtet.

Bereits einige Jahre zuvor kam am Mariahilfer Gürtel ebenfalls eine sehr alte Aufschrift wieder zum Vorschein. Diese alte Werbung für die Firma "Chocalade Adler Cacao" dürfte noch länger im Verborgenen gelegen sein und wieder waren es Abbrucharbeiten am Nachbarhaus, die sie zu Tage brachten.


nord22

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #1 am: 28. April 2014, 19:49:28 »
Die Bilder zeigen wirklich interessante Werbeaufschriften aus längst vergangenen Zeiten. In einem Sammelkatalog für Emailleschilder habe ich "Adler - Cacao" entdeckt, dies war ein Produkt des bekannten deutschen Herstellers Stollwerck; Zeitraum ca. 1900 - 1920.

LG nord22

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #2 am: 28. April 2014, 19:59:43 »
Danke für die Bilder!

Aus Wikipedia:

Appretur (von frz. apprèt „Ausrüstung, Zurichtung“) bezeichnet die veredelnde Behandlung von Stoffen und Textilien, aber auch Garnen und Fasern sowie Papier und Leder, um ihnen ein besonderes Aussehen und/oder bestimmte Eigenschaften zu geben. Dazu gehören besondere Oberflächenstrukturen, Steifheit, Weichheit, Glanz, Dichte, Glätte, Geschmeidigkeit, aber auch wasserabweisende, antistatische, flammhemmende oder antimikrobielle Ausrüstungen.

martin8721

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #3 am: 28. April 2014, 21:06:36 »

Aus Wikipedia:

Appretur (von frz. apprèt „Ausrüstung, Zurichtung“) bezeichnet die veredelnde Behandlung von Stoffen [...]

Danke für die Aufklärung! Auf die Idee, auf Wikipedia zu schauen, hätt ich auch kommen können.  ;)

Und danke auch Nord22 für die Info bezüglich "Adler -Cacao" - über diese Marke findet man im Internet leider sehr wenig.

martin8721

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #4 am: 28. April 2014, 21:26:58 »
Danke für diese schönen Bilder. Das Hof-Gebäude in der Siebertgasse war ein ehemaliger Pferdestall, der überlebt hat. Es müssten darin noch die im Mauerwerk verankerten Futterkörbe vorhanden sein. Ich werde morgen vormittag, wem vom BZM Meidling benachrichtigen, der sich das anschauen soll.

Hochinteressant! Hab mir eh gedacht, dass das vielleicht noch ein Pferdestall gewesen sein könnte.  :up:

W_E_St

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #5 am: 28. April 2014, 22:32:16 »
Alles glaube ich, aber nicht das Baudatum dieser Autowerkstatt! Das war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein - eventuell kriegsbeschädigtes - Jahrhundertwendehaus, das irgendwann sein Dach und eventuell obere Stockwerke eingebüßt hat. Solche eineinhalbsteinstarken Ziegelmauern wie man sie noch als Reste auf den Fotos sieht sind hat nach den 30ern keiner mehr gebaut. Entweder war das ein ebenerdiges Haus dem irgendwann statt einem Satteldach ein Flachdach spendiert worden ist, oder es war ein höheres Haus bei dem die oberen Stockwerke zerbombt worden sind (oder sonstwie zerstört, siehe Mariahilfer Straße).
"Sollte dies jedoch der Parteilinie entsprechen, werden wir uns selbstverständlich bemühen, in Zukunft kleiner und viereckiger zu werden!"

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W_E_St

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #6 am: 28. April 2014, 23:32:49 »
Das Hofgebäude kann so ca. alles zwischen 1890 und 1938 sein würde ich grob schätzen, wobei es mir für den Anfang dieser Zeitspanne etwas zu schlicht vorkommt. Der Straßentrakt ist durch die massiven Umbauten schwer zu datieren, es gilt aber im Prinzip das gleiche. Die Fenster mit Oberlichten rechts von der Einfahrt sprechen jedenfalls auch für meine oben geäußerte Schätzung, nur das Flachdach passt nicht.
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haidi

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #7 am: 29. April 2014, 00:05:16 »
Vorhang-Appretur:
Früher waren Vorhänge (die Store) relativ dicke und grobe Sachen. Auf dem Dachboden in unserem Gemeindebau stand ein Holzrahmen mit einer Menge Metallstifte auf allen 4 Seiten, der Holzrahmen in Höhe und Breite verstellbar. DA wurden Vorhänge mach dem Waschen zum Trocken aufgespannt, damit sie in Form blieben und nicht irgendwo zipften.
Zur Appretur hat man die Vorhänge immer wieder gegeben und solche Appretur-Anstalten gab es in ganz Wien.
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W_E_St

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #8 am: 29. April 2014, 00:36:03 »
Die Parzellen Siebertgasse 493, 495, 498, heute Siebertgasse 24 und 26 waren vor 1920 noch unverbaut.

Edit: Hab kurz nachgesehen. Siebertgasse 24 und 26 wurden um 1925 verbaut. Soweit ich das im Kopf hab, waren das Gründe der Pfarre Matzleinsdorf.

Edit 2: Orientierungsteufel hat zugeschlagen. Das im Bild sichtbare ebenerdige Gebäude (Stall) gehört zur Parzelle, Schallergasse 27, und wurde um 1896 erbaut.
Ich lese da bei Siebertgasse 26 eher 1923 heraus, ich nehme an wir haben die selbe Quelle ;)
Die Jahreszahlen im Kriegssachschadenplan scheinen mir leidlich zuverlässig zu sein, auch wenn ab und zu Häuser fehlen die eigentlich eingezeichnet sein müssten (der Plan scheint etwa Stand 1932 zu sein, aber ein Haus in der Severin-Schreiber-Gasse in Währing (Bj. 1926) fehlt. Außerdem sind die Zahlen nicht auf das Jahr genau, einmal steht bei einem 1914/15 gebauten Haus 1914, dann wieder bei einem 1929 gebauten 1930. Allerdings dürfte es da jeweils um Monate gehen, im ersten Beispiel war die Fertigstellung irgendwann im Frühjahr, die ersten Mieter sind laut Melderegister im April eingezogen.

Das Nachbarhaus lese ich auch als 1925, das deckt sich mit dem Stil des Hauses.
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U4

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #9 am: 29. April 2014, 07:25:38 »
An der Feuermauer des Nebenhauses der Autowerkstatt sind ja interessante Aufschriften zu finden ... Speziell das Logo erinnert mich an frühere Zeiten
🥒 Haltestelle NEU -  die schlechteste Version seit Beginn der Haltestellen, Stangln die fast nicht zu sehen sind im Bild der Stadt

martin8721

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #10 am: 29. April 2014, 09:47:02 »
Alles glaube ich, aber nicht das Baudatum dieser Autowerkstatt! Das war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein - eventuell kriegsbeschädigtes - Jahrhundertwendehaus, das irgendwann sein Dach und eventuell obere Stockwerke eingebüßt hat. Solche eineinhalbsteinstarken Ziegelmauern wie man sie noch als Reste auf den Fotos sieht sind hat nach den 30ern keiner mehr gebaut.

Die Parzellen Siebertgasse 493, 495, 498, heute Siebertgasse 24 und 26 waren vor 1920 noch unverbaut.
Das im Bild sichtbare ebenerdige Gebäude (Stall) gehört zur Parzelle, Schallergasse 27, und wurde um 1896 erbaut.

Na, da hab ich was losgetreten! Danke für eure detektivische Arbeit!  :up: :D

WIENTAL DONAUKANAL

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #11 am: 01. Mai 2014, 11:47:58 »
Auch in Meidling, in der Oppelgasse zwischen Wolfganggasse und Schallergasse,  hat sich bis ca 1970 eine >Vorhangspannerei< gehalten. Das war der geläufigere Namen für dieses Gewerbe. die damaligen Vorhänge waren kunstvolle Gespinnste aus Naturgarn und reichten in der Regel von der Decke bis zum Boden. Wenn die Hausfrau selbst gewaschen hat, hat sie die Vorhänge noch nass zum Spannen getragen, weil sie sonst beim normalen Trocknen am Dachboden eingelaufen und zipfert geworden wären.
In der Spannerei wurden sie dann auf schwere große Holzrahmen mit unzähligen hervorstehenden Stahlstiften aufgespannt und in den Sommermonaten im Hof und auch sogar auf der Gasse am Gehsteig zum trocknen und Bleichen an die Hauswand gelehnt. Viele Betriebe haben auch das Waschen und Ausbessern übernommen.
Ich suche schon lange nach einem Foto einer solchen Straßenszene - falls wer fündig wird.

Zum Thema Pferdestall: Es könnte auch ein Kuhstall gewesen sein. Noch weit bis in die 60er Jahre gab es am Migazzi Platz im Hinterhof eine Meierei. Am Abend wurde dort noch offene unbehandelte Kuhmilch an Milchkannen-Kunden ausgeschenkt. Derartige Stallungen waren in der Vorstadt recht häufig und die armen Tiere haben nie Tageslicht gesehen.

In der nahen Fockygasse unterhalb der Steinbauergasse hatte bis weit in die 80er ein Fiaker seinen Stall und Wagenremise und fuhr täglich mit dem Gespann in Stadt zum Standplatz.

moszkva tér

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #12 am: 01. Mai 2014, 13:04:21 »
die damaligen Vorhänge waren kunstvolle Gespinnste aus Naturgarn und reichten in der Regel von der Decke bis zum Boden. Wenn die Hausfrau selbst gewaschen hat, hat sie die Vorhänge noch nass zum Spannen getragen, weil sie sonst beim normalen Trocknen am Dachboden eingelaufen und zipfert geworden wären.
Bodenlange Vorhänge sind durch die Zentralheizungen ausgestorben, denn die Heizkörper befinden sich in der Regel unterhalb der Fenster und die Heizleistung wäre äußerst dürftig, wenn sie abgedeckt wären. Man will ja das Zimmer heizen und nicht den Luftraum zwischen Vorhang und Wand. Und der Hausmann bzw. die Hausfrau hängt heute noch die Vorhänge als Nasse wieder beim Fenster auf, da man sich so das Bügeln spart  :)

W_E_St

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #13 am: 02. Mai 2014, 13:03:27 »
Die Putzerei Ecke Hofstattgasse/Lazaristengasse im 18. hat noch bis weit in die 90er "Vorhänge Spannen, Putzen" angeboten, keine Ahnung wie oft das in Anspruch genommen worden ist. Zugesperrt hat sie irgendwann um die Jahrtausendwende, heute ist dort eine Garage.

Relativ lange Vorhänge (bodenlang bis ca. 3 m Raumhöhe) kriegt man übrigens beim IKEA, meine enden halt jetzt ca. 40 cm über dem Boden. Lose trocknen und rasch überbügeln reicht nach dem Waschen, ich bilde mir ein das ist Leinen. Allerdings muss ich sagen ich habe die Vorhänge in den 6 Jahren ihrer Existenz nur zweimal gewaschen (einmal beim Kauf und einmal wie sie voller stinkendem Löschwasser waren). Mehr brauchen diese einfärbig dunklen Vorhänge nicht.
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haidi

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Re: Stadtarchäologie
« Antwort #14 am: 02. Mai 2014, 14:07:16 »
Gespannt wurden die Stores, also die meist weißen, löchrig strukturierten, lichtdurchlässigen Vorhänge. Die dicken (die erst in den Sechzigern so richtig modern wurden) braucht man nur bügeln oder wenn der Stoff dafür geeignet ist, möglichst nass aufhänge.
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