Autor Thema: Georg Kreisler Ist Wien überflüssig?  (Gelesen 1844 mal)

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nord22

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Georg Kreisler Ist Wien überflüssig?
« am: 29. März 2015, 18:41:17 »
Anbei eine Satire von Georg Kreisler aus dem Buch "Ist Wien überflüssig?" (Verlag  Ueberreuter 1987). Ausnahmsweise etwas literarisches zum Thema Wien; ich hoffe, dass es dem einen oder anderen Forenteilnehmer gefällt. Die originale alte Rechtschreibung habe ich aus Gründen der Authentizität beibehalten.

Die Nachweiner

In Wien passieren Dinge nur, damit man ihnen nachweinen kann, wenn sie vorbei sind. Als ich ein Kind war, stand an fast jeder Ecke ein Kaffeehaus. Jetzt gibt es mehr Bücher, die den Kaffeehäusern nachweinen, als Kaffeehäuser. Bald wird es Bücher geben, die den Büchern nachweinen, die den Kaffeehäusern nachweinten.

Ich konnte schon als Kind Kaffeehäuser nicht leiden. Sie wurden von bleichen unzulänglichen Leuten bevölkert, die teilnahmslos vor sich hin starrten oder die Köpfe in Zeitungen vergruben oder Karten spielten. Auf den Tischen stand schales Wasser mit Bläschen. Kinder durften nicht stören. So ist es noch immer.
Niemand geht gern ins Kaffeehaus. Man geht nur ins Kaffeehaus, wenn man hinbestellt wird oder wenn man sonst absolut nichts zu tun hat, also aus Langeweile. Außerdem sind alle Kaffeehäuser häßlich. Gelegentlich verirrt sich eine fröhliche Gruppe von Touristen in so eine Kaffeehausfalle. Dann ist der Effekt umwerfend. Die Touristen beginnen zu frösteln, können mit dem kargen Essen, den Zeitungen und dem Wasser nichts anfangen und sind froh, wenn man sie wieder gehen läßt. Kaum sind sie auf der Straße, werden sie wieder lebendig und fröhlich. Kaffeehäuser werden erst ihren Zweck erfüllen, wenn die Ober Häubchen tragen wie im Allgemeinen Krankenhaus.

Die Kaffeehausnachweiner finden ja die zahllosen Gläser mit Waser originell, die der Ober auf den Tisch stellt. Aber erstens trinkt kein Mensch Wasser, zweitens tropfen die Gläser, wenn man versucht zu trinken, und drittens sind sie fleckig und unappetitlich. In einem anständigen Kaffeehaus werden nämlich nur Kaffeetassen und Eßbesteck gewaschen, die Gläser und Teller bleiben immer, wie sie sind. Wer eine Sachertorte bestellt, wird daher Gugelhupfreste auf seinem Teller finden, und umgekehrt. Wer ein Gulasch bestellt, merkt natürlich nichts von den vielen Gulaschvorgängern auf seinem Teller. Es soll in Hernals einen Ober gegeben haben, der manchmal die Eierreste von den Eierbechern abkratzte, aber der ist gestorben.

Die Kaffeehausnachweiner finden es auch charmant, daß der Kaffeehausober meistens nicht kommt, wenn man zahlen will. Für mich ist das so charmant wie ein Installateur, der nicht kommt, wenn das Klosett verstopft ist. Und ein Ober, der einen wiedererkennt und sofort dasselbe bringt wie vorige Woche, ist widerlich. Ich habe einmal in einem Kaffeehaus Buchteln gegessen und war dann nicht mehr imstande, dieses Kaffeehaus zu betreten, ohne Buchteln vorgesetzt zu bekommen. Als ich sie ablehnte, weil sie schon beim erstenmal vergiftet geschmeckt hatten, war der Ober beleidigt und rechnete sie doppelt. Natürlich mache ich seither einen weiten Bogen um dieses Kaffeehaus, denn beleidigte Ober sind noch lebensgefährlicher als freundliche.

Ich habe die Glanzzeiten der sogenannten Prominentenkaffeehäuser nicht erlebt, aber ich stelle sie mir furchtbar vor: In das Café Griensteidl oder das Café Zentral kommen prominente Herren, und jeder versucht, etwas Intelligentes zu sagen. Da ihnen aus dem Stegreif nichts einfällt, beschimpfen sie die Abwesenden, dann beschimpfen sie einander, und kurz vor dem Einschlafen erklären sie den Ober zu einem Original. Dann bricht der erste oder der zweite Weltkrieg aus, die Kaffeehäuser schließen, und man weint ihnen nach.

Noch schlimmer als die Kaffeehausnachweiner sind die Operettennachweiner, denn die Wiener Operette war ein Unglücksfall, den jeder vernünftige Wiener zutiefst bedauert. Die weltweite Verbreitung der Operette hat ja den Wienern den Ruf eingebracht, ein Volk von unzurechnungsfähigen Graf Bobbys zu sein, und die Operettenmusik hat das Wiener Musiktheater um Jahre zurückgeworfen. Wer weiß, ob man heute so begierig und unsachgemäß mit amerikanischen Musicals hantieren würde, wenn man nicht Angst vor neuen Operetten hätte!

Es begann damit, dass Jacques Offenbach zu Recht großen Erfolg in Paris hatte, was natürlich Nachahmer auf den Plan rief. Unter ihnen war ein besonders untalentierter Belgier namens Franz von Suppé, der leider in Wien lebte. Suppé schrieb eine Offenbach nachempfundene musikalische Transvestiten-Show namens „Fatinitza“, die von einem Mann in Frauenkleidern handelte, der darin zwar vom Publikum, aber von niemanden auf der Bühne erkannt wurde. Die Musik war ebenso schwachsinnig wie das Libretto, aber am schwachsinnigsten war das Wiener Publikum, weil es aus dunklen Gründen, denen man lieber nicht nachforschen sollte, begeistert applaudierte. Das verursachte dann eine Operettenschwemme, die jeder Beschreibung spottet.

Die anpassungsfähigen Militärkapellmeister Ziehrer und Lehar, der Beamte Carl Zeller, die Juristen Kalman und Ascher, der Sänger Granichstaedten und der Ingenieur Richard Heuberger waren plötzlich erfolgreiche Komponisten. Es gab allerdings auch begabte Mitläufer wie Oskar Straus, Leo Fall oder Paul Abraham, die von Geldnot und gerechterweise auch von Gewissenbissen geplagt wurden. Was die Textbücher betrifft, diese kaisertreuen Dialoge und Gesangstexte, die eher an Geisteskrankheiten erinnern als an Theaterstücke, versagt mir die Sprache.

Johann Strauß war ein Sonderfall. Er weigerte sich lange, eine Operette zu schreiben, und war schon sechsundvierzig Jahre alt, als er dem Drängen nachgab. Bei der „Fledermaus“, dem „Zigeunerbaron“ und teilweise bei der „Nacht in Venedig“ beachtet man ja vor lauter Begeisterung über die Musik das Buch nicht, aber man sollte auch nicht übersehen, daß Strauß – unter Druck – eine ganze Reihe von Operetten schrieb, die schlimm waren: „Karneval in Rom“, „Simplizius“, „Fürstin Ninetta“, „Jabuka“, „Waldmeister“, „Die Göttin der Vernunft“, um nur einige zu nennen. Sie waren, von Einzelheiten abgesehen, eine Zeitverschwendung seines Genies.

Es gibt auch die Nahrungs- und Genußmittelnachweiner, denn die Donaukrebse und der Erdäpfelzucker sind verschwunden, der Apfelstrudelteig ist so tiefgefroren wie der Germknödel, und die Kracherln heißen und schmecken anders. Überhaupt schmeckt alles anders, auch wenn es dasselbe ist. Wer nachweint, hat mehr von seiner Vergangenheit, wenn auch weniger von der Gegenwart.
Sehr angenehm sind mir die Hitlernachweiner, denn stellen sie sich vor, man müßte Hitler nicht nachweinen, und ich freue mich heute schon auf die Computernachweiner und Atombombennachweiner. Aber am meisten freue ich mich auf die Nachweinernachweiner.


nord22