Autor Thema: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!  (Gelesen 7184 mal)

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13er

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[PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« am: 25. Oktober 2012, 11:32:10 »
Selten so einen guten und wichtigen Kommentar gelesen:

Zitat
Die Stadt vom Auto befreien!
Kommentar der anderen | Dietmar Steiner, 24. Oktober 2012, 18:35

Der anhaltende Kampf gegen die Ausweitung des Parkpickerls widerspricht jeglicher urbanistischer Rationalität: Plädoyer für eine radikale Reduktion des privaten Wohnraums "Auto" im öffentlichen Raum

"A developed country is not a place where the poor have cars. It's where the rich use public transport." (Gustavo Petro, Bürgermeister von Bogotá)

Es ist im Straßenbild deutlich erkennbar: Die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung hat weitere Wiener Bezirke von der automobilen Belagerung befreit und bringt den nun von parkenden Pendlern überschwemmten restlichen Teil Wiens in Bedrängnis. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Vernunft, bis das Problem für ganz Wien gelöst sein wird. Das Problem der Pendler kann niemals am Zielort, sondern immer nur am Ausgangspunkt der Verursachung gelöst werden. Diese physikalische Tatsache hat vor allem Niederösterreich endlich zur Kenntnis zu nehmen.

Fassungslos und wütend machte mich deshalb der Kampf gegen die Ausweitung des Parkpickerls in Wien zuvor. Auf welchem dumpfen Niveau hier Autofahrer-Lobbys und lokale Provinz-Parteien polemisierten und mobilisierten, die heilige Kuh des privaten Automobils als alleinigen Herrscher der Stadt zum Schaden der Bevölkerung anbeteten, widerspricht jeder rationalen urbanistischen Analyse.

Denn Tatsache ist, dass die europäische Stadt mit einer weiteren Vorherrschaft des privaten Automobils ihre Funktionsfähigkeit heute und in Zukunft nicht mehr aufrechterhalten kann. Deshalb ist die Einschränkung und Reglementierung der individuellen Besetzung des öffentlichen Raums durch private Automobile die einzige Möglichkeit, Lebensraum und Mobilität für alle Bewohner zurückzugewinnen.

Wir müssen in allen europäischen Städten, auch in Wien, den privaten Autoverkehr dramatisch reduzieren zugunsten eines für alle zugänglichen öffentlichen Raums, der durch die europäische Stadtstruktur historisch gegeben und nicht vermehrbar ist. Die urbane Struktur der europäischen Stadt, sagte mir einmal Vicente Guallart, der heutige Stadtarchitekt von Barcelona, wurde nicht für Autos, sondern für Pferde gestaltet. Vicente ist kein verträumter Konservativer, sondern ein experimentell erfahrener Architekt und Stadtplaner, der die katalanische Metropole mit revolutionären Visionen einer neuen Energie- und Mobilitätspolitik zukunftsfähig machen will.

Dieser Einsicht folgten in den letzten Jahren die Stadtplaner aller westeuropäischen Länder. Mit erfolgreicher City-Maut in skandinavischen Metropolen, mit radikalem Rückbau von innerstädtischen Autostraßen in Frankreich, Spanien oder der Schweiz. Die Exhibition Road im Zentrum Londons wurde als Shared Space gestaltet, bei dem sich Fußgänger, Radfahrer und Automobile friedlich denselben Straßenraum teilen. Als London dafür im Wettbewerb "European Urban Public Space" ausgezeichnet wurde, geschah das mit dem Unverständnis der spanischen Jurymitglieder. In ihren Städten ist dies längst schon eine Selbstverständlichkeit, dass in engen historischen Straßen und Gassen Gehsteig und Fahrbahn auf einer Ebene sind.

Aber man muss auch die Autokanäle selbst reduzieren. Die wichtigste Stadtausfahrt von Madrid in Richtung Portugal wurde auf eine Fahrspur zurückgebaut, die Haupterschließung des neuen Stadtteils Öresund in Kopenhagen überhaupt nur mit einer Fahrspur gestaltet, die sich der private Pkw mit dem öffentlichen Bus und den Wartezeiten vor seinen Haltestellen teilen muss.

Nirgendwo führte dies zum Kollaps der Mobilität, wie unsere autofixierten Verkehrsplaner dies immer noch behaupten. Denn der Rückbau der "Autokanäle" hat einen Effekt, der überall in Westeuropa vor Ort zu beobachten ist. Er "entspannt" die Stadt, weil dann eben nicht mehr die emotionale Notwendigkeit besteht, auf einer mehrspurigen Straße von Ampel zu Ampel auf 80 km/h zu beschleunigen, nur weil die Möglichkeit des Überholens räumlich gegeben ist. Er fördert den Respekt der Autofahrer vor anderen Verkehrsteilnehmern:

Es ist evident, und westeuropäische Städte zeigen dies, dass eine Reduktion und Verlangsamung des Autoverkehrs auch die anderen Verkehrsteilnehmer entspannt. Es senkt auch die Aggressivität der Radfahrer, und es muss nicht mehr, einzigartig in Wien (!), in den U-Bahn-Haltestellen gerannt und gerempelt werden, um den gerade einfahrenden Zug zu erreichen, als ob es lebensentscheidend wäre, fünf Minuten früher oder später am Zielort anzukommen.

Warum diese westeuropäische Entwicklung der Verkehrspolitik in deutschen und österreichischen Städten noch nicht vollzogen wird, hat meiner Einschätzung nach vor allem kulturelle Gründe. In Deutschland ist die Automobilindustrie ganz einfach ein Religionsersatz, und Österreich ist eben ein osteuropäisches Land mit einem vergleichbar unterentwickelten Verhältnis zum Automobil. So bekennt und zelebriert das Wiener Verkehrsverhalten seine Verwandtschaft mit den Verhältnissen in Belgrad, Kiew, Baku, Sofia oder Skopje: der Straßenraum als tagtäglicher Kampfplatz, auf dem der Stärkere gewinnt.

Diese osteuropäische Strategie wird in Wien immer noch von den zuständigen Magistratsabteilungen verfolgt. Der soeben aufwändig erfolgte Umbau des Gürtels beim neuen Hauptbahnhof zeigt dies exemplarisch. Eine fatale Fortschreibung des Status quo. Realisiert wurde eine völlige Missachtung eines künftigen urbanen Raums für Fußgänger, keine entsprechende Berücksichtigung von Fahrradstraßen, keine Idee einer entsprechenden Gestalt des öffentlichen Raums, eines möglichen großzügigen baumbestandenen Boulevards.

Eine Umkehr dieser zum Untergang der europäischen Stadt führenden Wiener Ideologie osteuropäischer Verkehrsplanung ist nur möglich, wenn die individuellen Vorteile einer Reduktion der automobilen Mobilität in der Stadt erkannt und kommuniziert werden. Dies spricht nicht gegen den individuellen Besitz von Automobilen, die für Überlandfahrten und allfällige Besorgungen verwendet werden, als zusätzlicher "Wohnraum", der bei Nichtgebrauch stadtschonend geparkt und verwahrt werden muss. Denn nur dann, wenn wir das "Auto" grundlegend umdenken, kann die europäische Stadt gerettet werden:

Das Auto muss als Bestandteil des privaten Wohnens gesehen werden, und seine Rolle im öffentlichen Raum ist allen anderen Mobilitätsformen nur bei radikaler Reduktion seiner Verwendung gleichberechtigt. (Dietmar Steiner, DER STANDARD, 25./26.10.2012)

Dietmar Steiner, Jg. 1951, ist Leiter des Architekturzentrums Wien.

Quelle: http://derstandard.at/1350259318987/Die-Stadt-vom-Auto-befreien
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martin8721

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #1 am: 25. Oktober 2012, 11:52:31 »
Ein wirklich sehr guter Kommentar!  :up:
Vor allem dieser Absatz bringt es ziemlich genau auf den Punkt:

Zitat
Die Stadt vom Auto befreien!
Kommentar der anderen | Dietmar Steiner, 24. Oktober 2012, 18:35

Warum diese westeuropäische Entwicklung der Verkehrspolitik in deutschen und österreichischen Städten noch nicht vollzogen wird, hat meiner Einschätzung nach vor allem kulturelle Gründe. In Deutschland ist die Automobilindustrie ganz einfach ein Religionsersatz, und Österreich ist eben ein osteuropäisches Land mit einem vergleichbar unterentwickelten Verhältnis zum Automobil. So bekennt und zelebriert das Wiener Verkehrsverhalten seine Verwandtschaft mit den Verhältnissen in Belgrad, Kiew, Baku, Sofia oder Skopje: der Straßenraum als tagtäglicher Kampfplatz, auf dem der Stärkere gewinnt.

Diese osteuropäische Strategie wird in Wien immer noch von den zuständigen Magistratsabteilungen verfolgt. Der soeben aufwändig erfolgte Umbau des Gürtels beim neuen Hauptbahnhof zeigt dies exemplarisch. Eine fatale Fortschreibung des Status quo. Realisiert wurde eine völlige Missachtung eines künftigen urbanen Raums für Fußgänger, keine entsprechende Berücksichtigung von Fahrradstraßen, keine Idee einer entsprechenden Gestalt des öffentlichen Raums, eines möglichen großzügigen baumbestandenen Boulevards.


Und die Kommentare dazu auf derstandard.at sind teilweise echt wieder unter aller Sau... :down:

Linie 41

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #2 am: 25. Oktober 2012, 12:02:44 »
Ach... Lectrice und Nabumsti spammen das Forum wieder zu? Widerliche Zeitgenossen...
Ich verstehe das Konzept dahinter nicht und bin generell dagegen.

13er

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #3 am: 25. Oktober 2012, 12:04:14 »
Ach... Lectrice und Nabumsti spammen das Forum wieder zu? Widerliche Zeitgenossen...
Die haben nur tagsüber so viel Zeit, am Abend müssen sie in Währing Parkplatz suchen 8)
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Linie 41

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #4 am: 25. Oktober 2012, 12:06:14 »
Die haben nur tagsüber so viel Zeit, am Abend müssen sie in Währing Parkplatz suchen 8)
Wobei bei mir draußen ist zum Beispiel nicht so wahnsinnig viel los. Aber, daß man über den Schafberg nicht einfach drüberkommt, hält viele davon ab außerhalb der Vorortelinie zu parken. Tagsüber stehen jetzt allerdings ziemlich viele WUTUs in Gersthof herum.
Ich verstehe das Konzept dahinter nicht und bin generell dagegen.

schaffnerlos

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #5 am: 25. Oktober 2012, 12:06:46 »
Heute gelesen: Wenn ein Mann sein geparktes Auto meint, sagt er "Ich steh' dort", seinen Penis betreffend jedoch "Er steht nicht". © Bernhard Ludwig
Soviel zur Prioritätensetzung und Identifikation.

martin8721

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #6 am: 25. Oktober 2012, 12:07:53 »
@ 13er: Weil's mir grad auffällt: Kannst du im Ursprungs-Post erwähnen, dass der Kommentar aus dem Standard stammt?

coolharry

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #7 am: 25. Oktober 2012, 12:13:11 »
Der Planer von Barcelona hat im Moment genau folgende Aufagben:

1: Sparen.
2: Schaun das die bestehende Infrastruktur nicht vollends vor die Hunde geht.
3: Beides mit einander so zu verknüpfen, dass man mit dem Geld Punkt zwei auch umsetzen kann.

War gerade in Barcelona.
Da gibts so gut wie keine Baustelle auf der gearbeitet wird. Das einzige was ich gesehen hab war das Flicken einer kaputten Wasserleitung. Ansonsten nur verwaiste Baustellen.
Auch eine verwaiste U-Bahn Baustelle  ;D.

Und eine Stadt die so dermassen viele breite und ausgebaute Straßen hat wie Barcelona (inkl. der "Hafenautobahn") braucht man nicht als Zukunftsorientiertes Praxisbeispiel nennen. Wer auch immer grad an der Spitze der Verkehrsplanung dort sitzt.


Der Umbau des Gürtels beim Hauptbahnhof ist häßlich und einer modernen Stadt unwürdig - da muss ich dem Hrn. Steiner recht geben. Allerdings wären unsere Lösungsansätze verschiedene.
Fakt ist, dass das was heute in unserer Stadt Planerisch aufgeführt wird zum ko.... ist. Wenn man sich die Donaufelder Straße ansieht - zum fürchten sowas. :'(
Weil ein menschlicher Hühnerstall nicht der Weisheit letzter Schluß sein kann.

moszkva tér

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #8 am: 25. Oktober 2012, 12:27:38 »
Im Prinzip trifft der Artikel voll ins Schwarze.
Aber ich gebe auch coolharry Recht. In Westeuropa war die Autohörigkeit der Städte in der Nachkriegszeit viel weiter fortgeschritten. Stadtautobahnen, Kahlschlag des ÖV - Speziell Straßenbahn - usw. wurden in Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, teilweise auch Deutschland, schon viel früher und mit einer viel größeren Konsequenz durchgeführt als bei uns. In Wien gab es gar nicht die Gelegenheit, ähnlich viele Monströsitäten durchzusetzen, auch wenn es durchaus solche Pläne gab (Gürtelautobahn beispielsweise). Wien war dafür 20 Jahre zu spät dran.

Immerhin rudern diese Länder nun wieder zurück, das muss man ihnen positiv anrechnen. Aber sie dennoch als "Musterstädte" darzustellen, finde ich übertrieben, denn da sind sie noch lange nicht angelangt, auch wenn der Weg durchaus ok ist.

Und Wien muss man anlasten, dass trotz vieler guter Ansätze man nichts aus den Fehlern anderer Städte gelernt hat. Wie ein pubertierender Jugendlicher hört man nicht auf andere, sondern muss um jeden Preis selbst mit dem Kopf die Wand austesten.

Musterstädte (wenn es sowas überhaupt gibt) in der Verkehrsbewältigung sehe ich z.B. in der Türkei. Die bauen inzwischen fleißig Straßenbahnen und haben die Phase der extremen Massenmotorisierung - auch dank absurd hoher Benzinpreise - fast komplett ausgelassen.

60er

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #9 am: 25. Oktober 2012, 13:20:31 »
Ich sehe Barcelona auch nicht unbedingt als Musterstadt. Die haben im Vergleich zu Wien enormen Autoverkehr und unzählige breite Autohöllen, direkt bis ins Stadtzentrum hinein. Dazu eine Metro wo die Stationen so verwinkelt und weitläufig sind, dass man für jeden Umsteigevorgang eine Ewigkeit braucht und wo es oft besser und schneller ist, gleich zufuß zu gehen.

moszkva tér

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #10 am: 25. Oktober 2012, 13:29:59 »
Ich sehe Barcelona auch nicht unbedingt als Musterstadt. Die haben im Vergleich zu Wien enormen Autoverkehr und unzählige breite Autohöllen, direkt bis ins Stadtzentrum hinein. Dazu eine Metro wo die Stationen so verwinkelt und weitläufig sind, dass man für jeden Umsteigevorgang eine Ewigkeit braucht und wo es oft besser und schneller ist, gleich zufuß zu gehen.
Musterstädte bezüglich Verkehr gibts kaum. Am ehesten noch die vorindustriellen Kleinstädte, die für fußläufigen Verkehr konzipiert waren.
Musterstadt kann man auch nicht bei der Verkehrsbewältigung, sondern nur bei der Verkehrsvermeidung sein. Städte, die eine kleinteilige Struktur, einen guten Nutzungsmix und eine vernünftige Nahversorgung haben, haben von Haus aus weniger Verkehr, weil man fast alles im Grätzel erledigen kann. In Europa wurden diese Strukturen aber spätestens in der Nachkriegszeit systematisch zerstört. Städte, die das noch haben, beispielsweise im asiatischen Raum, haben aber wieder ganz andere Probleme, die ich um nichts in der Welt mit denen von europäischen Städten eintauschen würde.


13er

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Re: [PM] Die Stadt vom Auto befreien!
« Antwort #11 am: 25. Oktober 2012, 13:46:54 »
@ 13er: Weil's mir grad auffällt: Kannst du im Ursprungs-Post erwähnen, dass der Kommentar aus dem Standard stammt?
Ja, sorry, hab ich vergessen.
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