In den letzten Monaten habe ich schon einige Reisebeiträge aus verschiedensten Städten geschrieben: Und eine gewisse Euphorie den meisten besuchten Straßenbahnstädten gegenüber kann diesen Beiträgen wohl nicht abgeschrieben werden

. Es geht auch anders:
Essen war die vorletzte ex-westdeutsche Stadt, deren Straßenbahn ich besuchen durfte. Dass Essen so lange warten musste, kam und kommt nicht von ungefähr. Was fasse ich denn als ein gelungenes Straßenbahnnetz auf? Es sollte die Lebensadern einer Stadt bilden, strukturierend wirken, verkehrsflussprägend. Es sollte adäquat in die Zentren integriert sein, ein wesentlicher Gestaltungsaspekt in diesen und für diese. Es sollte den maßgeblichen Teil des hochfrequenten Oberflächen-ÖPNV ausmachen. Und es sollte so etwas wie eine Netzwirkung haben; umso mehr, wenn die geschichtlichen Voraussetzungen dieses nahelegen.
Es sollte jedenfalls
nicht bloß peripheres Beiwerk auf nur mehr minderprioritären Achsen darstellen, und vor allem nicht dort aus dem Stadtbild verdrängt worden sein, wo es schon einmal besonderen Nutzen gestiftet hatte. Fehler einzugestehen ist ein Bonus; wenn man Strecken wiederaufbaut, deren Einstellung man bereut, dann umso besser. Fährt ein anderes stadtbildstrukturierendes Verkehrsmittel auf einer ehemaligen Straßenbahntrasse, sprich, ein Obus, dann sei das hingenommen.
Soweit ein paar Kriterien zur Netzstruktur. Zweifellos gibt es andere, weitere, aber belassen wir es hier einmal bei der Struktur. Auf die sonstigen Straßenbahnstädte, in denen ich heuer zu tun hatte, trifft das eigentlich fast durchgehend zu: Warschau, Krakau, Zagreb, Linz, Antwerpen. In Sofia teils teils, aber dort fehlte die Zeit, sich länger mit der Straßenbahn zu befassen. Das Gegenbeispiel für das alles ist Essen.
Essen hat ohne die geringste Notwendigkeit dafür sein Straßenbahnnetz in der Innenstadt in zwei Tunnelquerungen kanalisiert, die zudem noch durch eine ebenso überflüssige Teilumspurung auf Normalspur betrieblich auf Dauer getrennt sind. Wer den «Charme» der Essener Innenstadt samt der umliegenden autobahnartigen Straßenzüge kennt, versteht noch weniger, dass diese Kanalisierung in Form von Tunnelstrecken geschah. Alles, was einmal Netzwirkung war, ist zerrissen; die Tunnelstrecken in der Innenstadt sind so gebaut, dass durch die Linienbündelung auf den daran anschließenden Außenstrecken nur eher bescheidene Intervalle möglich sind; eher bescheidene Intervalle für die neuntgrößte deutsche Stadt mit fast 600000 Einwohnern. Eine stadtnahe Straßenbahnstrecke wurde nur aufgegeben, weil sie nicht mit den vorgegebenen Tunnelmündern verträglich war. Eine der richtig starken Äste, der nach Kray, wurde dem Experiment Spurbus geopfert, das dreifach glorios scheiterte: Die Tunneleinbindung gibt es nicht mehr, die Obusse gibt es nicht mehr; und die Spurbustrasse auf der A40 ist so marod, dass sie akut gefährdet ist.
Ein vordem vorbildlich vermaschtes Netz ist in seine Einzelbestandteile zerfallen. Von den 10 Linien, die noch 1965 über den Viehofer Platz fuhren, als der Zenit der Tram in Essen schon überschritten war, blieben gerade einmal magere zwei im Zehnminutentakt über. Diese Absätze meine ich nicht als militanter Tunnelfeind: Es mag in engem Rahmen zwischen sinnvollen und notwendigen Tunnelstrecken geben, und etwas differenzierter werde ich mich damit im sehr komplexen Fall Antwerpen auseinander setzen.
Genug über die Verkümmerung des Essener Straßenbahnnetzes beklagt, Zeit für die erste Aufnahme: Wagen 1520 an der Kreuzung der Altendorfer Straße mit dem Berthold-Beitz-Boulevard. Hier befindet sich ein Minilichtblickerl der Straßenbahn in Essen; doch dazu mehr im nächsten Beitrag

Diese Aufnahme stammt vom 28. Oktober 2014 fotografiert in einer Pause der
CommitterConf.