Anstellung von Frauen bei der „Elektrischen“.
Neue Freie Presse am 2.6.1915
Wie wir erfahren, hat man sich nun auch bei uns entschlossen, Frauen in den Dienst der Straßenbahn als Kondukteurinnen einzustellen, um die durch die Verhältnisse bedingten immer stärker werdenden Abgänge unter dem männlichen Personal ausgleichen zu können. Wenn auch in fast allen deutschen Städten längst, vielfach sogar seit Kriegsausbruch, zu dieser Maßnahme geschritten wurde, so bedeutet sie doch für Wien eine interessante Neuerung. Bei uns liegen nämlich die Verhältnisse viel schwieriger und komplizierter. Der Dienst eines Straßenbahnschaffners ist in Deutschland recht einfacher Natur und kann von jeder intelligenten Person, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, nach kurzer Anweisung ausgeübt werden. Der Schaffner hat eigentlich nichts zu tun, als die Karte zu „knipsen“ und die Münze entgegenzunehmen. Anders in Wien: Wir haben hier bei der Straßenbahn vielerlei oder mehr Fahrpreise, ein sehr kompliziertes Umsteig- und Markierungssystem und der Schaffner wird infolge des 14-Heller-Tarifs durch ein fast ununterbrochenes Geldwechseln außerdem sehr belastet. Ferner muss bei den Übergangsstationen vom Ring zu den Einbruchsstraßen von der Unterleitung zur Oberleitung umgeschaltet werden, wobei der Schaffner sehr oft, wenn die Sache nicht klappt, allerlei Manipulationen zu besorgen hat. Allen diesen kleinen und großen Schwierigkeiten zum Trotz hat man sich nun doch entschlossen, Frauen zum Kondukteursdienst einzustellen. Sache der Wiener Bevölkerung wird es sein, durch Takt, Freundlichkeit und Höflichkeit dem weiblichen Kondukteur beizustehen und der ernsten Frau, die sich durch diese harte, schwere Arbeit ihr Brot verdienen will, das Ungewohnte ihrer Lage zu erleichtern.
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