Vom 19.-21.4. besuchte ich mit einigen Kollegen Wrocław (deutsch Breslau), Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesien in Südwestpolen.
Gleich vorweg: Ich kann mich nicht erinnern, daß mich eine andere Stadt in Polen mehr beeindruckt hätte. Schon einmal die Lage ist sehr sehenswert - Wrocław liegt auf 12 Inseln zwischen den Flüssen Oder, Ohle, Ślęza, Widawa und Bystrzyca, die miteinander durch ca. 150 Brücken verbunden sind. Damit weist die Stadt nach Venedig, Amsterdam und Hamburg die meisten Brücken in Europa auf und trägt den Beinamen "Venedig Polens".
Für mich besonders faszinierend war in erster Linie nicht gerade die Tramway, sondern vielmehr das reiche Architekturspektrum, das die Stadt bietet. Obwohl im zweiten Weltkrieg über 70% aller Bauten der Stadt zerstört wurden, wurde offenbar vieles wieder aufgebaut bzw. neu errichtet. Zahlreiche Baudenkmäler, vor allem in der Innenstadt, blieben gottlob unversehrt. Wrocław beeindruckt durch einen spannenden Architekturmix - vom Mittelalter über Barock und Renaissance bis in die Moderne ist alles vertreten. Besonders fasziniert hat mich die auch in der Innenstadt vielfach vertretene Architektur der 10er- bis 30er-Jahre, es gibt auch eine Werkbundsiedlung. Wie man auf den Bildern sehen wird, sind auch viele der Brücken architektonische Meisterleistungen.
Stadt- und verkehrsplanerisch gibt es wie überall in Polen freilich einiges zu bemängeln, das großteils im Kommunismus verbrochen wurde: breite Straßen mit Absperrgittern für Fußgänger ziehen sich durch die Stadt, häufige Passagen und Unterqueren stören nicht nur beim Gehen, sondern auch beim Radfahren und Grünraum ist in der Innenstadt allgemein recht rar. Jedoch dürfte vor allem in Vorbereitung für die EM 2012, wo in Wrocław - man verzeihe mir: lächerliche drei Spiele stattfanden - einiges verbessert worden sein: der Gleiszustand der Straßenbahn ist im allgemeinen okay, der Hauptbahnhof wurde vorbildlich renoviert, es gibt ein Fahrgastinformations- und auch ein Citybike-Radverleihsystem. Gerade letzteres hat mich sehr gefreut und die Besichtigung der Stadt stark erleichtert, ich war eigentlich fast nur per Rad unterwegs (was mir hier in Prag schon wieder abgeht).
Angereist wurde am Freitag abend von Prag über Pardubice. Ab Pardubice ging es mit einem EN57 direkt bis Wrocław. Die Fahrzeit von über 5 Stunden für etwas mehr als 300 Kilometer ist leider nicht besonders berauschend (von Wien sind es sogar acht Stunden für 400 Kilometer). Aber mich hat das langsame Tempo nicht gestört, so sieht man wenigstens mehr von der Landschaft. Eher verstörend ist der sehr baufällige Zustand vieler Bahnhöfe auf polnischer Seite. Außerdem ist mir unklar, warum es auf polnischer Seite vier Schaffner für einen EN57 benötigt, wenn die Tschechen mit einem Zugbegleiter auskommen.
Unser EN57-1946 in Wrocław Głowny:
Auf der Fahrt wurden stellenweise die Leuchtstoffröhren aus- und die Glühbirnen eingeschaltet, was ein angenehm warmes Licht ergab:
Vom wirklich wunderschön renovierten Bahnhof habe ich leider nur zwei Bilder von der Ankunft, ich wollte am nächsten Tag noch hinfahren, habs aber leider vergessen:
Zunächst nun - off-topic, aber vielleicht interessierts ja wen - einige Sehenswürdigkeiten der Stadt (keine Sorge, es kommen schon noch Tramwaybilder):
Klassisch für polnische wie auch für tschechische Städte: der Rynek mit spätmittelalterlicher Bebauung:
Blick von oben:
Kaufhaus Hans Pölzig, errichtet 1911-13 in der Ofiar Oświęcimskich 38-40, unweit des Rynek.
In Wroclaw steht auch das einzige Architekturmuseum Polens. Es ist in einer ehemaligen Kirche untergebracht und definitiv sehenswert. Besonders beeindruckt hat mich eine Ausstellung über Villas in Polen. Sogar eine "Villa" aus Bytom (die Stadt kennen manche Leser hier bereits aus diversen Oberschlesien-Reiseberichten) ist dabei: auf ein ehemaliges Industrieobjekt, das nicht abreißbar ist, wurde einfach ein Haus draufgestellt. Sehr geniale Idee!
Zuletzt noch eines der wichtigsten Gebäude Wroclaws, das auch seit 2006 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen ist: die Jahrhunderthalle (Hala Stulecia). Sie ist eine von 1911-13 vom Architekten Max Berg gebaute Veranstaltungshalle aus Stahlbeton. Die Kuppel war mit einer freien Spannweite von 65 m Durchmesser zum Zeitpunkt der Fertigstellung weltweit die größte dieser Art. Die Halle war wesentlicher Bestandteil des zur selben Zeit errichteten Breslauer Messegeländes. Im Kommunismus wurde sie in "Hala ludowa" (Volkshalle) umbenannt und ihr eigentlicher Zweck so verwischt. Momentan wird der Park der Anlage nach historischem Vorbild wiederhergestellt. Im Jahre 2011 begannen die Abbrucharbeiten - alle Einbauten, die nach 1913 entstanden sind, werden entfernt. Nach den UNESCO-Richtlinien soll die Halle ihr ursprüngliches Aussehen aus dem Jahr 1913 zurückerhalten.
Hinein konnten wir leider nicht, da gerade Vorarbeiten für eine Messe stattfanden. Die Halle wird jetzt also wieder gemäß ihrer früheren Bestimmung genutzt.
Nachdem meine Reisegefährten am Sonntagmorgen aufgrund eines leichten Überkonsums der tags zuvor eingekauften Vorräte mit Schlafen beschäftigt waren und ich diese nur in Maßen konsumiert hatte, machte ich eben alleine eine weitere Stadtrundfahrt mit Rad und Kamera. Startpunkt war das Radterminal nahe unseres Hostels:
Ziel war es, vor allem schöne Tramwayfotos mit Hintergrund zu schießen und dabei auch die Brücken abzulichten. Wie in Polen üblich, sind die Intervalle auf den einzelnen Linien recht lang, es verkehren aber meist mehrere Linien auf einem Ast. Das Netz muß früher viel, viel größer gewesen sein, es liegen (auch in der Innenstadt) in vielen Straßenzügen nicht mehr befahrene Schienen.
Es verkehren
20 Linien auf einer Gesamtstrecken- von 84 und einer Gesamtlinienlänge von ca. 250 Kilometern. Im damaligen Breslau verkehrte die erste Straßenbahn im Jahr
1877, es handelt sich um eines der ältesten Straßenbahnnetze Polens. Das Netz erreichte in den 20er- und 30er-Jahren seine größte Ausdehnung, litt jedoch sehr unter den Kampfhandlungen im 2. Weltkrieg. Straßenbahnen wurden sogar in die Barrikaden während der Schlacht um Breslau 1945 eingebaut!
Es gibt "normale" Straßenbahnlinien (darunter auch eine Innenstadt-Rundlinie, bezeichnet als 0P und 0L) und sogenannte
"PLUS"-Linien. Auf den Tram PLUS-Linien wurden alle Ampeln mit einer Vorrangschaltung ausgerüstet, um so eine höhere Reisegeschwindigkeit zu erreichen. Auf diesen Linien fahren die neuen Škoda-Wagen. Der Fahrpreis ist auf diesen Linien höher.
Zum Einsatz kommen folgende Fahrzeuge:
- Konstal 105Na – 180 vierachsige Trieb- und 90 Beiwagen (unmodernisiert).
- Konstal Protram 105NaWr – 172 vierachsige modernisierte Trieb- und 86 Beiwagen des Typs Konstal 105Na.
- Protram WrAs 204 – 12 vierachsige Trieb- und 6 Beiwagen
- Protram WrAs 205 – 26 Doppelgelenk-Wagen mit niederflurigem Mittelteil
- Škoda 16T – 17 fünfteilige Niederflurbahnen mit 65 % Niederfluranteil.
- Škoda 19T – 31 fünfteilige Zweirichtungswagen, zu 65 % niederflurig.
Von einer Mitfahrt habe ich aus den ersten vier Gründen abgesehen.
(Nein, das Herumkommen war - wie bereits geschildert - mit dem Rad einfach praktischer.)
Nun zu den Bildern:
Ein stadteinwärts fahrender Konstal-Protram 105NWr hat soeben die Most Zwierzyniecki (Tierbrücke) überquert. Die Brücke gehört zu den schönsten in Wroclaw und wurde zwischen 1895 und 1897 erbaut. Der Name kommt von dem in der Nähe befindlichen Tiergarten. Auch die Jahrhunderthalle befindet sich nicht weit von der Brücke.
Die halbe Jahrhunderthalle plus Tramway:
Nun ging es wieder hinein in die Stadt. Auf dem Weg dorthin passiert man fast zwangsläufig die Most Grunwaldzki, ein wichtiges Nadelöhr über die Oder. Die imposante Hängebrücke, seinerzeit die längste Deutschlands, wurde zwischen 1907 und 1910 errichtet. Hier die Brücke mit einem Skoda 16T auf Linie PLUS 33:
Einmal umdrehen vor der Most Grunwaldzki ermöglicht noch dieses Foto mit einem der sechs identen Wohntürme direkt hinter der Brücke:
Es folgte eine Fahrt quer durch die Stadt, um möglichst viele Brücken abzulichten. Warum die Most Tumski auch "Brücke der Verliebten" genannt wird, sollte angesichts dieses Fotos einsichtig sein. Die Most Mlynskie im Hintergrund überquert gerade ein Protram 204:
Noch einmal dieselbe Brücke, diesmal mit essenorganisierendem Vordergrund:
Die dritte Brücke, die die sogenannte Sandinsel mit der Außenwelt verbindet, ist die Most Piaskowy, ein weiteres Exemplar architektonisch schöner, aber für Wiener Schule nur bedingt geeigneter Bauweise:
Kurz vor der Most Mlynskie werde ich noch von einer herbeieilenden Protram 205WrAs überrascht. Kein Kommentar zur Parkweise des Autos rechts
Weiter gehts in flotter Fahrt zur mäßig spannenden Most Pokoju, die aber wenigstens einen abwechslungsreichen Hintergrund bietet.
Schon vorher hatte ich ihn kurz einmal gesehen, aber nicht fotografieren können. Besser vorbereitet war ich jetzt, da mitten auf einer Kreuzung stehend und von Autofahrern bepöbelt werdend, zwar auch nicht, aber das Motiv wars mir wert: hier einer der beiden noch vorhandenen Konstal 102N aus den Sechzigern, die als Museumsbetriebswagen dienen. Der Wagen 2002 "Strachotek" war zuvor in Krakau beheimatet:
Auf dem durch einen Autobahnknoten grauslich verschandelten Plac Powstanców Warszawy kommt mir ein weiterer Skoda 16T auf der Linie PLUS 33 entgegen. Er wird gleich über die Most Grunwaldzki weiterfahren. Im Hintergrund rechts ist das Postgebäude zu sehen, das im Bericht noch eine Rolle spielen wird.
Ups, bisher ist eine Fahrzeugtype ja noch zu kurz gekommen.
Ja, es gibt auch 105Na, ja, es sind nicht besonders viele (vor allem sonntags), aber ja, ich habe auch von ihnen Bilder. Hier ein solches Exemplar samt grindigem SUV:
Und gleich an der nächsten Ecke kommt der nächste 105Na auf mich zu. Fahrgastinformation gibt es übrigens an jeder Station, ihre Glaubwürdigkeit konnte ich allerdings nicht ausprobieren.
Aller guten Dinge sind drei: Konstal 105Na, Polski Fiat und altes Industriegebäude:
Nun war tramwaymäßig eigentlich alles Wesentliche abgeklappert, bis zum vereinbarten Treffpunkt mit den Kollegen war aber noch etwas Zeit übrig. So wälzte ich - Achtung, ab hier wird es wieder off-topic! - den Reiseführer nach einer unterhaltsamen Tätigkeit und wurde fündig: an Sonntag gibt es im Post- und Telegrafenmuseum freien Eintritt! Das mußte natürlich gleich genutzt werden, zumal ich eh grad in der Nähe war. Also Rad am Terminal abgegeben und zum zentralen Postgebäude (war schon auf einem vorigen Bild zu sehen):
Lustige (Weiter?)Verwendung von Haltestellenlöffeln an den Einfahrten des Postgebäudes:
Im 1. Stock des Postgebäudes wurde ich als erster (und einziger?) Gast freudig empfangen. Bezahlen mußte ich tatsächlich nichts, man verlangte nur einen Eintrag in ein großes Buch. Ob ich damit jetzt den Newsletter der Institution abonniert oder mich bereit erklärt habe, die Institution fortan finanziell zu unterstützen, wird sich zeigen. Jedenfalls war das Museum recht vielseitig: es gab eine große Markengalerie (die mich nur begrenzt interessierte), eine riesige originale Postkutsche aus dem 18. Jahrhundert (schon besser), die neben einigen Fernsehern aus den Fünfzigern stand - was sich der Kurator der Ausstellung dabei gedacht hat, würde ich auch gerne wissen - und eine große Karte von allen Postkutschenverbindungen in Deutschland und Österreich des 19. Jahrhunderts, die ich längere Zeit interessiert betrachtete. Ob die Postkutschen auf der Strecke Wien-Belgrad bequemer waren als das
Schlafwagenabteil im ÖBB-WL "AB30", das ich 2011 genutzt habe? Mehr Angebot als heute (der Zug wurde 2011 eingestellt) wars jedenfalls.
Noch in Gedanken landete ich kurz darauf in der Abteilung "Briefkästen aus aller Welt", wo mir zuerst ein bestimmtes Exemplar aus der Galerie ins Auge stach:
62 Cent kostet ein normaler Brief jetzt, glaube ich. 29 Cent waren es noch anno 1981. Schön, daß man solche Informationen in Südwestpolen erhält
Nach den Briefkästen gings schnurstracks zu den Telefonen. Das Postmuseum verfügt über eine umfangreiche Ansammlung an Apparaten der 70er-Jahre in den klassisch brutalen Farben:
Bei der Handyausstellung scheint man aber irgendwo vor 2000 stehengeblieben zu sein:
Jedenfalls war das Postmuseum eine sehr unterhaltsame Sache und ich bin froh, drinnen gewesen zu sein. Nach einem Essen bei Sphinx am Rynek und dem Besuch des bereits oben erwähnten Architekturmuseums gings um 16:45 dann auch schon wieder in Richtung Tschechien. Der Zug war diesmal kein EN57, sondern eine Lok+Klassen-Garnitur. Erfreulicherweise hingen neben einem tschechischen Halbgepäckwagen drei alte Erstklasswagen von PKP IC dran, in denen wir sofort ein Abteil okkupierten:
Zweieinhalb Stunden später wars auch schon wieder vorbei mit Polen und der letzte heruntergekommene Bahnhof, die Grenzstation Miedzylesie, wurde passiert. Die tschechischen Bahnhöfe und auch der Schienenzustand glänzten in Folge verglichen zu Polen: kein einziger Schienenstoß und saubere und gepflegte Bahnhöfe - so gehört sichs halt in einem echten Eisenbahnland. Schade, daß Polen das nicht so beherzigt, die Eisenbahn vernachlässigt und lieber Autobahnen quer durchs Land baut.
Nichts desto Trotz war der Besuch in Wrocław ein sehr schönes, lustiges und interessantes Erlebnis. Und um mit
Karl Schwab zu enden, sei an alle, die noch nicht dort waren, der Spruch gerichtet: "Foahrts hin, schauts as eich aun!"
An die Connaisseure der polnischen Sprache: ich bitte um Verständnis, bei polnischen Bezeichnungen nicht alle Kraxn über oder an Buchstaben angebracht zu haben und behalte mir Übersetzungs- oder Interpretationsfehler vor. Außerdem hoffe ich, nicht zu viel redundante Off-Topic-Information präsentiert zu haben.